Debatte Berliner Krankenhausbewegung

„In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst“
Debatte um sozialistische Gewerkschaftspolitik und Klassenkampf (2021/2022)

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

  1. Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern
    (Hände weg vom Wedding!)
  2. Kommentar zum Artikel: „Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern“
    (Omar Orgagrad, ver.di Organizer)
  3. Illusion oder Realitäten? Welche soziale Gruppe beherrscht die Gewerkschaften in der BRD?
    (Kemal)
    • Inflationäre Terminologie
    • Organizing in den Gewerkschaften
    • Organizing bei ver.di
    • Verabsolutierung einer theoretischen Analyse
  4. Was tun mit den Gewerkschaften in der BRD?
    (Omar Orgagrad, ver.di Organizer)
    • Von der Theorie in die Praxis – Übersetzungsschwierigkeiten von sozialistischer Theorie…
    • Die einseitige Verkürzung von Organizing-Methoden – Von der Methoden- zur Strategiefrage
    • Lernen aus der Berliner Krankenhausbewegung? – Zwischen Scheitern und Erfolg
    • Was tun mit der Berliner Krankenhausbewegung?
    • Fazit
  5. Vorläufige Schlussworte: Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive!
    (Hände weg vom Wedding!)


Einleitung

Liebe Leser*innen, Liebe Mitstreiter*innen,

in der vorliegenden Broschüre werden Debattentexte über grundsätzliche Fragen der Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung veröffentlicht. Angestoßen durch die Veröffentlichung eines Kommentars zur Berliner Krankenhausbewegung durch die Berliner Stadtteilorganisierung „Hände weg vom Wedding!“ im re:volt-Magazin, wird über elementare und brennende Fragen debattiert, die auch das Wesen gegenwärtiger Kämpfe der Arbeiter*innenklasse sowie die Politik der etablierten Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland bestimmen:

Was bedeutet der Klassenkampf?

Was sind die bedeutenden Charaktermerkmale einer klassenkämpferischen Politik in der Gewerkschaftsbewegung?

Was verbirgt sich hinter der in den etablierten Gewerkschaften dominierenden Politik der Sozialpartnerschaft? Was ist die hauptsächliche Funktion dieser Ideologie und des bürokratischen Apparats in der Arbeiter*innen- und der Gewerkschaftsbewegung?

Wie ist das Verhältnis der klassenkämpferischen Kräfte zu den etablierten Gewerkschaften? Sollen Revolutionär*innen sich von den reformistisch bis reaktionär geführten Gewerkschaften fernhalten oder eine kämpferisch-progressive Arbeit innerhalb derselben aufbauen?

In welchem Verhältnis stehen der Kampf um Tagesforderungen oder anders formuliert um Reformen und der Kampf um die revolutionäre Abschaffung des Ausbeutungssystems?

Inwieweit verlieren selbst progressive Organisierungskonzepte und -methoden wie das sogenannte Organizing in den Händen der etablierten und sozialpartnerschaftlich geführten Gewerkschaften ihre Sprengkraft oder ihr Entwicklungspotential?

Diese Fragen sind weder in politischer noch historischer Hinsicht neu. Sie stellen sich seit spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Arbeiter*innenbewegung in mehreren Ländern Europas feste Konturen entwickelt hatte und als Klassenbewegung begann, die Herrschenden in vielen politischen Auseinandersetzungen unter Druck zu setzen. Insbesondere ab dem Zeitpunkt, zu dem der wissenschaftliche Sozialismus als konsequent-revolutionäre politische Richtung seinen Einfluss auf die Arbeiterinnen und Gewerkschaften vergrößern konnte, nahm die Auseinandersetzung über die Strategien des Klassenkampfes enorm zu. Der historisch bedeutsamste Streit ist hierbei der über die Frage nach Sozialreformen und Revolution – prominent geführt durch die revolutionäre Marxistin Rosa Luxemburg auf der einen und den offenen Reformisten Eduard Bernstein auf der anderen Seite. Der Gegenstand der historischen Auseinandersetzung ist auch heute noch aktuell. Es ist auch kein Zufall, dass dieselben brennenden Fragen einer revolutionären Bewegung heute kontroverse Debatten auslösen. Die Anforderungen des praktischen Klassenkampfes in vielen Branchen der heutigen Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung erfordern immer wieder einen konsequenten und revolutionären politischen Standpunkt. Die Dominanz des Reformismus innerhalb der Arbeiter*innen- und der Gewerkschaftsbewegung ist eine nicht zu leugnende Tatsache, die das größte Hindernis für die Entwicklung einer revolutionären Strategie zur Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung darstellt. Auch die ganz praktischen und vermeintlich kleinen Fragen des Tarifkampfes oder der Streiktaktik, werden grundsätzlich anders gestellt und beantwortet, je nachdem, ob man sie vom Standpunkt des Reformismus oder der Revolution betrachtet.

In der gegenwärtigen Zeit, in der die radikale Linke sich wieder verstärkt dem organisierten Klassenkampf zuwendet, werden ähnliche Debatten in den politischen Organisationen und Initiativen mit Sicherheit zunehmen, je mehr und systematischer sie in den Betrieben und Gewerkschaften eine eigenständige und wachsende Alternative aufbauen und je mehr sie von den etablierten und die Gewerkschaftspolitik beherrschenden Akteur*innen als Bedrohung angesehen werden.

Wenn die hier dokumentierte Debatte im Umfeld der Berliner Stadtteilorganisierung „Hände weg vom Wedding!“ eine ähnliche Auseinandersetzung bei weiteren Initiativen und Bewegungen anstoßen kann, ist damit die hauptsächlich beabsichtigte Zielsetzung der Veröffentlichung erfüllt.

Die Arbeitskampfkommission von „Hände weg vom Wedding!“


Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern

Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern

Erschienen am 16. November 2021 im re:volt-Magazin von der Arbeitskampfkommission in „Hände weg vom Wedding!“

Die Beschäftigten bei Charité und Vivantes in Berlin mussten sich vor kurzem erneut in harten und lang andauernden Tarifkonflikten mit ihren Geschäftsführungen auseinandersetzen. Im Mutterkonzern Charité arbeiten etwa 16.300 Beschäftigte. Dazu kommen ca. 3.100 Beschäftigte in ausgelagerten Tochterunternehmen, vor allem beim Charité Facility Management (CFM) mit rund 2.800 Kolleginnen. Zum Vivantes-Konzern, der sich selbst als „größter kommunaler Krankenhauskonzern Deutschlands“ rühmt, gehören neun Krankenhäuser, 18 Pflegeheime, zwei Seniorinnenenwohnhäuser, eine ambulante Rehabilitation, medizinische Versorgungszentren, eine ambulante Krankenpflege, ein Hospiz sowie Tochtergesellschaften für Catering, Reinigung und Wäsche. Vivantes selbst beschäftigt insgesamt rund 17.900 Arbeiterinnen. In den zwölf sogenannten „Tochtergesellschaften“ sind ca. 2.900 Menschen beschäftigt, meist zu prekären Bedingungen, die wesentlich schlechter ausgestaltet sind als im Mutter-Konzern. Am Ende des Monats bedeutet das für die outgesourcten Kolleginnen bis zu 25 Prozent weniger Lohn für die selben Tätigkeiten.

Die Charité ist, wie auch Vivantes, ein landeseigene Unternehmen Berlins, beide werden aber nicht nach den Prinzipien der öffentlichen Daseinsvorsorge, sondern nach dem privatwirtschaftlichen Prinzip der Profitabilität geführt. Das heißt, dass der Erfolg des Managements sich nicht an der Bereitstellung belastbarer Gesundheits-Infrastruktur, guten Behandlungen und gesunden Arbeitsbedingungen misst, sondern an der Höhe des Umsatzes und der erwirtschafteten Profite! Es verwundert dementsprechend nicht, dass nach Inanspruchnahme berüchtigter Unternehmensberatungen viele Bereiche und damit tausende Beschäftigte in Tochterunternehmen mit Billig-Löhnen und prekären Arbeitsbedingungen ausgelagert wurden. Dort gilt nirgends der für kommunale Arbeitgeber verbindliche Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Teilweise kam überhaupt kein Tarifvertrag zur Geltung. Neben den finanziellen Einsparungen stellt dieses Vorgehen auch eine aggressive soziale Spaltung der Arbeiter*innenschaft dar, mit der Funktion, die Klassensolidarität erheblich zu schwächen. Die Bonzen aus Führungsetagen und Landespolitik hatten diese Rechnung allerdings ohne den Wirt gemacht!

Der vereinte Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und die Rolle der Gewerkschaftsführung

Die Diktatur des Kapitals wird auch im Gesundheitssystem immer offensichtlicher, denn bei der Umsetzung ihrer Geschäftsziele gingen die Unternehmensführungen so maßlos vor, dass die Gesundheit der Beschäftigten selbst regelrecht ruiniert wird. In einem System von „immer mehr Leistung und immer größeren Profiten bei immer weniger Beschäftigten!“ haben Gesundheit und Erhaltung der Arbeitskraft der Arbeiterinnen selbst im öffentlichen Gesundheitssystem kaum mehr Bedeutung. Seit 2011 setzten sich deshalb viele Beschäftigte, in erster Linie gewerkschaftlich organisierte Kolleginnen, unermüdlich für bessere Arbeitsbedingen ein: Konkret für ein Ende des Outsourcing, die Rückführung der Tochtergesellschaften zum kommunalen Arbeitgeber und somit die Eingliederung in den TVöD. Auch bei den Stammbelegschaften von Vivantes und Charité wuchs das Bedürfnis nach Vereinigung der Kräfte mit den Kolleg*innen der Tochtergesellschaften, um bei Tarifverhandlungen bzw. Arbeitskampfmaßnahmen gestärkt aufzutreten und der Spaltung, die als Einschüchterungs- und Disziplinierungsmaßnahme eingesetzt wurde, vereint entgegenzuwirken.

‚Kapital‘, sagt Quarterly Reviewer, ‚flieht Tumult und Streit und ängstlicher Natur‘. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror von Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinen Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert; selbst auf Gefahr des Galgens.

P. J. Dunning, zitiert von Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, S.801, Berlin 1960

Über Jahre wurde diesem berechtigten Vorhaben der Beschäftigten aus Mutter- und Tochterkonzernen seitens der Gewerkschaft ver.di allerdings nicht entsprochen. Die Planung und Durchführung von neuen Tarifverhandlungen sowie damit einhergehender Arbeitskampfmaßnahmen fanden stets getrennt voneinander statt. So zuletzt auch im Arbeitskampf der CFM, in dem die Beschäftigten ebenfalls den TVöD forderten. Mittels eines Schlichtungsverfahrens durch den SPD-Politiker Platzeck wurde der Streik aber von oben herab beendet, ohne den TVöD erreicht zu haben. Und das im Frühjahr des selben Jahres in dem mit der Berliner Krankenhausbewegung im Herbst die Kolleginnen aus Charité und Vivantes ihre Forderungen gemeinsam mit den Kolleginnen der Tochterunternehmen artikulieren sollten.

Die Illusion der Sozialpartnerschaft

Es stellt sich also die Frage, warum ver.di die Chancen der Zusammenführung der Tarifverhandlungen und Arbeitskampfmaßnahmen wiederholt nicht nutzte. Wie ist die Politik der ver.di-Führung zu erklären?
Die Logik und die Politik der Gewerkschaftsführung sind durchdrungen von der Illusion, Arbeiter*innen und Chefs, Beschäftigte und Manager*innen seien gleichberechtigte Geschäftspartner mit gemeinsamen Interessen. Gelegentlich würde diese Partnerschaft durch uneinsichtiges Vorgehen der Arbeitgeberseite gestört, sodass man manchmal um einen größeren Anteil am gemeinsam erwirtschafteten Ergebnis streiten müsse. In dieser Logik wird die Realität der Klassenunterschiede ausgeblendet. Tatsächlich sind die Interessen der Unternehmensführungen in ihrem Streben nach Profit und die der Arbeiter*innen im System der Lohnarbeit diametral entgegengesetzt. Dennoch wird in der politischen Kultur der großen Gewerkschaften kontinuierlich die Sozialpartnerschaft in den Köpfen ihrer Mitglieder verankert, obwohl diese im krassen Widerspruch zur täglichen Arbeitsrealität und den Erfahrungen im Betrieb steht.

Daraus folgt auch eine angepasste und zahme Position der Gewerkschaftsbürokratie, wenn es um die Rolle von Tarifverhandlungen und Streiks geht. Statt im Streik das zentrale Kampfmittel zur Durchsetzung unserer Interessen als Beschäftigte und als arbeitende Klasse gegenüber unseren Ausbeuter*innen zu erkennen, bevorzugt der ver.di-Apparat die Verhandlung auf vermeintlicher Augenhöhe, setzt auf Kompromisse und Entgegenkommen der Arbeitgeberseite. Der Einsatz von Streiks ist für die herrschenden Gewerkschaftsführungen ausschließlich in defensiver Haltung akzeptabel. Und wenn man dann zähneknirschend zum Streik aufruft, ist die Zielsetzung nicht die unbedingte Durchsetzung aller berechtigten Forderungen der Beschäftigten und die Erhöhung der Klassensolidarität – sondern, die gestörte „partnerschaftliche Beziehung“ wieder herzustellen.

Aus der Sicht der ver.di-Führung würde ein konsequentes und kämpferisches Vorgehen in Tarif- und Streikpolitik die seit langem bei Charité und Vivantes im Rahmen des TVöD praktizierte und vermeintlich harmonisch-sozialpartnerschaftliche Beziehung mit dem dem öffentlichen Arbeitgeber gefährden. Jeder Gewerkschaftsbürokratin weiß genau, dass kollektive Arbeitskampfmaßnahmen auf betrieblicher und gewerkschaftlicher Ebene eine Stärkung des Klassenbewusstseins unter den Kolleg*innen mit sich bringen. Aus Sicht der Bürokratie droht dabei die Gefahr einer klassenkämpferischen Eigendynamik unter den Beschäftigten, die sich ihrer Kontrolle entzieht. Dies zu vermeiden, klein zu halten und schnellstmöglich zu beenden, stellt eines der „ehernen Gesetze“ der Gewerkschaftsführung dar und so wird jedes Angebot der Gegenseite als Chance gesehen, einen Kompromiss zu schließen und den „sozialen Frieden im Betrieb“ wieder herzustellen.

Die Berliner Krankenhausbewegung

Hierüber ließe sich auch erklären, was ver.di bewogen hat, mit dem 100-tägigen Ultimatum der Berliner Krankenhausbewegung weitere drei Monate auf die Einsetzung effektiver Arbeitskampfmaßnahmen zu verzichten. Aber auch die Gewinnung neuer Mitgliedschaften wird hier eine strategische Rolle gespielt haben.

Nichtsdestotrotz hat sich in diesem Zusammenhang gezeigt, wie groß der Kampfeswille der Beschäftigten von Charité, Vivantes und Töchtern ist. Die Berliner Krankenhausbewegung hat es geschafft, innerhalb kurzer Zeit einen hohen Organisationsgrad in den Betrieben zu erreichen und viele junge Kolleg*innen zu motivieren, für ihre Interessen auf die Straße zu gehen.

Die 100 Tage wurden aktiv genutzt, um eine öffentlichkeitswirksame Kampagne auf die Beine zu stellen mit dem Ziel, solidarische Unterstützung durch breite Teile der arbeitenden Klasse zu erlangen. Während die bürgerliche Presse zwar lange nur verhalten berichtete, entstand eine basisnahe Vernetzung zwischen den kämpfenden Beschäftigten mit solidarischen Nachbarn und Arbeiterinnen aus anderen Branchen. Das gemeinsame Interesse aller Lohnabhängigen an einem gemeinwohlorientierten Gesundheitswesen wurde herausgestellt und das bisher häufig verbreitete Vorurteil, in Krankenhäusern seien Streiks nicht möglich oder gar unsozial gegenüber den Patientinnen wurde aufgebrochen. Die Parole „Der Normalzustand gefährdet die Gesundheit, nicht der Streik“ steht beispielhaft hierfür. Die aktive Verbindung mit anderen sozialen Kämpfen wie der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen!“ oder den streikenden Arbeiter*innen beim Lieferdienst Gorillas stellten einen wichtigen Schritt in Richtung einer geeinten Bewegung der Lohnabhängigen für unsere Interessen dar, aus der sich die Möglichkeit ergeben kann, Arbeitskämpfe in einem größeren politischen Zusammenhang zu denken.

Klassenkampf von oben und die Antwort der Kolleg*innen

Hingegen nutzte die Gegenseite die Zeit, ihre perfiden Angriffe auf den Arbeitskampf vorzubereiten. Anhand von Einschüchterungen der Beschäftigten durch Vorgesetzte, Verleumdung der Streiks als Gefährdung der Patient*innen und letztendlich den Versuch, den Streik gerichtlich verbieten zu lassen, offenbarten die Geschäftsführungen von Charité und Vivantes ihre Sicht auf die angeblich gleichberechtigte Sozialpartnerschaft. Fakt ist, dass von oben herab unverhohlener Klassenkampf mit allen Mitteln geführt wurde, die der Kapitalseite zur Verfügung stehen.

Unter dem fadenscheinigen Vorwand fehlender Notdienstvereinbarungen, deren „sozialpartnerschaftlicher“ Verhandlung sie sich verweigerten, setzte sie ein richterliches Streikverbot durch, das schon die Warnstreiks zum Ablauf des Ultimatums im Keim ersticken sollte. Die Geschäftsführungen der unterschiedlichen Konzerne traten hierbei geeint auf und konnten sich auf Rückendeckung aus der Senatspolitik verlassen. Die Arbeitgeberseite verspottete damit das Märchen der Sozialpartnerschaft.

Erst auf massiven Druck durch Proteste der Streikbewegung wurde die gerichtliche Verfügung revidiert und ein gemeinsamer Streik in den Mutter- und Tochterunternehmen wurde ermöglicht. Statt die Beschäftigten zu spalten, trat infolgedessen das Gegenteil ein: Die Aggressivität der Arbeitgeber und die offensichtliche Verhöhnung der Interessen der Beschäftigten sorgten dafür, dass diese ihrer Wut noch mehr Ausdruck verliehen und ihren Kampf mit großer Entschlossenheit aufnahmen. Die Anfang September durchgeführte Urabstimmung verdeutlichte unmissverständlich die Bereitschaft der überwältigenden Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder, einen unbefristeten „Erzwingungsstreik“ zu führen: An der Charité stimmten 97,85 Prozent, bei Vivantes 98,45 Prozent und in den Tochterunternehmen 98,82 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Kolleg*innen für die Arbeitskampfmaßnahme! Für viele von ihnen stellte der Arbeitskampf eine letzte Chance dar, in ihrem Beruf weiterhin arbeiten zu können, ohne körperlich und psychisch auszubrennen. Die Durchsetzung der Hauptforderungen der Beschäftigten gegenüber der Arbeitgeberseite waren dementsprechend nicht nur wichtig sondern essentiell notwendig. Sie lauteten:

  1. Tarifvertrag Entlastung bei der Charité und bei Vivantes mit verbindlichen Vorgaben zur Personalbesetzung und einem Belastungsausgleich bei Unterbesetzung!
  2. Faire Löhne und TVöD für alle Beschäftigten!

Der gemeinsame Streik nahm schnell an Fahrt auf und es gab viele Aktionen und Demonstrationen, an denen nicht nur die Streikenden, sondern auch viele solidarische Menschen aus anderen Berufen, gesundheitspolitische Unterstützungskreise sowie linke, sozialistische Organisationen teilnahmen. Neben den Geschäftsführungen wurde auch die Senatspolitik direkt adressiert, da im Zuge des Tarifkampfes die grundsätzliche Frage nach der politischen Ausgestaltung des öffentlichen Gesundheitssystems aufflammte. Die zuständigen Politiker*innen hielten sich fernab von Lippenbekenntnissen und Wahlwerbung jedoch zurück und der Arbeitgeber blieb hart. Immer wenn ver.di die Bereitschaft zu Verhandlungen eröffnete, glänzten die Geschäftsführungen von Charité und Vivantes mit Abwesenheiten, Desinteresse oder absurden Angeboten, die in ihrer Konsequenz sogar noch Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen bedeuteten.

Die Logik der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftspolitik stieß an ihre Grenzen und es kam zu einem der längsten Krankenhausstreiks in der deutschen Geschichte. Erst nach über einem Monat sah sich die Geschäftsführung der Charité genötigt, dem politischen und ökonomischen Druck des Streiks nachzugeben und Verhandlungsangebote zu präsentieren, auf die ver.di eingehen konnte, ohne sich gegenüber der Basis der Bewegung die Blöße zu geben. Der Initiative folgte kurze Zeit später die Ankündigung zur Einigung beider Seiten über ein „Eckpunkte-Papier“ zu einem TV-Entlastung.

Spaltung durch getrennte Verhandlungen

Unabhängig von der Qualität des angekündigten Kompromisses auf der Grundlage des Eckpunkte-Papiers bedeutete die Entscheidung der ver.di-Fachbereichsleitung, die Arbeitskampfmaßnahmen bei Charité einzustellen, faktisch nichts anderes, als den Kampf der Beschäftigten bei Vivantes und ihren Tochtergesellschaften massiv zu schwächen und dem Tarifgegner eine willfährige und unschätzbare Unterstützung zu leisten. Ver.di offenbarte gegenüber der Arbeitgeberseite ihren Willen, auch bei Vivantes die Arbeitskampfmaßnahmen umgehend einzustellen, sobald die Arbeitgeberseite sich kompromissbereit zeigen würde. Es lässt sich davon ausgehen, dass die Führungen von Charité und Vivantes in regem strategischen Austausch miteinander standen, sodass ein ähnliches Eckpunkte-Papier auch für Vivantes schnell beschlossen wurde. Und wer blieb übrig? Wieder einmal trifft es mit den Vivantes-Tochterunternehmen die Belegschaften, die in den prekärsten Verhältnissen arbeiten und die alleine kämpfend die geringste Macht auf ihrer Seite haben. Zwar wurde auf den letzten Demonstrationen immer wieder skandiert, dass jene in ihrem nun alleinstehenden Kampf um den TVöD nicht allein gelassen werden sollen aber die Realität sah anders aus. Für die weiteren Verhandlungen um die Vivantes-Töchter wurde erneut der ehemalige Ministerpräsident von Brandenburg, Platzeck, als Moderator einbezogen, der es schon ein Jahr zuvor ermöglichte, die Rückführung des Charité Facilitiy Managements in den TVöD zu verhindern. Mit dem demokratisch zweifelhaft abgeschlossenen Billig-Tarifvertrag der CFM war zu Anfang des Jahres auch schon die ideale Vorlage geschaffen worden, um den Beschäftigten eine sofortige Eingliederung in den TVöD vorweg zu nehmen.

Befriedigung der Interessen der Beschäftigten auf niedrigstem Niveau

Auch wenn die Tarifverträge noch nicht unter Dach und Fach sind, kann man den roten Faden, der die Qualität der noch zu feilenden Tarifverträge weitgehend bestimmen, auf der Grundlage der beiden „Eckpunkte-Papiere“ erkennen.

Erstens sollen die Tarifverträge einen langen Zeitraum von drei Jahren umfassen. Das bedeutet, dass die Beschäftigten aufgrund der sogenannten „Friedenspflicht“ für einen langen Zeitraum zur Passivität verpflichtet werden. Zweitens wird die tatsächliche Entlastung der Beschäftigten auf einen langen Zeitraum von drei Jahren verschoben, so dass sie erst ab 2024 einen wirklich spürbaren Entlastungsausgleich erhalten. Auf der Grundlage von Patienten-Personal-Ratio sollen für die Stationen und Bereiche klare Quoten festgelegt werden. „Bei Unterschreitung der festgelegten Besetzungsregelungen erhalten die hiervon betroffenen Beschäftigten“, so ver.di, „einen Belastungsausgleich.“ „Dafür werden so genannte Vivantes-Freizeitpunkte vergeben; einen Punkt bekommt beispielsweise eine Pflegefachkraft, wenn sie eine Schicht lang in Unterbesetzung arbeiten musste. Im Jahr 2022 erhalten Beschäftigte für je neun Vivantes-Freizeitpunkte eine Freischicht oder einen Entgeltausgleich von 150 Euro; im Jahr 2023 genügen dafür je sieben Vivantes-Freizeitpunkte, und im Jahr 2024 je fünf Vivantes-Freizeitpunkte. Die Anzahl der zu gewährenden freien Tage ist allerdings gedeckelt: im Jahr 2022 auf sechs, im Jahr 2023 auf zehn und im Jahr 2024 auf fünfzehn freie Tage; über die Deckelung hinausgehende Ansprüche werden in Entgelt ausgeglichen.“

Bei der Charité sollen über den Entlastungsausgleich hinaus in den nächsten drei Jahren mehr als 700 zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege eingestellt werden, um eine Entlastung für die Pflegekräfte an der Charité zu erreichen. Da aufgrund der hohen Belastung in der Pflege aber viele qualifizierte Arbeiter*innen die Vollzeitbeschäftigung oder sogar das Berufsfeld an sich verlassen, bleibt die Frage offen, welche Stellen tatsächlich besetzt werden oder ob die Geschäftsführung sich weiterhin damit herausredet, sie fände nicht genügend Personal. Der positive Erfolg bei den Eckpunkte-Papieren ist der Durchbruch, dass die Kapitalseite zum ersten Mal überhaupt die Forderung des Belastungsausgleichs grundsätzlich akzeptieren muss. Dass die Beschäftigten für den enormen Stress und die barbarische Arbeitsbelastung für ein ganzes Jahr ab 2022 nur sechs freie Ausgleichstage und 2023 nur zehn Ausgleichstage erhalten können, kann keine ernsthafte und tatsächliche Entlastung für die Betroffenen mit sich bringen.

Für die Arbeitgeber werden sowohl die wenigen freie Ausgleichstage als auch der Entgeltausgleich in Höhe von 150 Euro brutto eine hinnehmbare Summe sein und stellen nicht zwangsläufig den von ver.di erhofften ökonomischen Druck dar, um strukturelle Verbesserungen zu Gunsten der Beschäftigten in der Krankenhausökonomie anzustoßen. Drittens blieb die Arbeitgeberseite in Bezug auf die Rückführung der Tochter-Beschäftigten zum landeseigenen Betrieb und damit in den TVöD hartnäckig. Nach über sechs Wochen Streik steht als Verhandlungsergebnis ein Tarifvertrag fest, der zwar in Anlehnung an den TVöD einige materielle Verbesserungen für die Beschäftigten bedeutet, aber die eigentliche Forderung nach Rekommunalisierung nicht erfüllt. In der Konsequenz bedeutet das, dass die Kolleg*innen der verschiedenen Betriebe des öffentlichen Gesundheitssystems weiterhin in kommunale und outgesourcte gespalten bleiben. Selbst unter den verschiedenen Tochter-Betrieben werden durch unterschiedliche Staffelungen der Lohnsteigerung weiterhin Unterschiede gemacht und das Labor Berlin ist nicht einmal enthalten.

Die Beschäftigten von Charite und Vivantes sowie der Tochterunternehmen konnten angesichts des Kampfpotentials der Belegschaften zeigen, dass entschlossene und ausdauernde Streiks auch im Gesundheitswesen möglich sind. Mit den ursprünglich verbindlich aneinander gekoppelten Forderungen von Mutter- und Tochterbelegschaften sowie der zeitlichen Bündelung der Kampfkraft bestand die reale Chance, alle der wichtigen Forderungen durchzusetzen und der herrschenden Klassenspaltung ein Ende zu bereiten. Diese große Chance wurde leider vertan!

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Kommentar zum Artikel

Kommentar zum Artikel: Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern

von Omar Orgagrad, ehemaliger Organizer der Berliner Krankenhausbewegung, Januar 2022

Liebe Genossinnen und Genossen von Hände weg vom Wedding, ich habe mir mehrfach und gründlich euren Artikel zur Berliner Krankenhausbewegung durchgelesen und komme leider zu dem Schluss, dass der analytische Mehrwert des Artikels für eine klassenkämpferische Perspektive im deutschen Gesundheitswesen nur sehr gering ausfällt.

Gebetsmühlenartige, verkürzte Kritik an der Sozialpartnerschaft

Meine zentrale Kritik richtet sich auf eure vereinfachte Kritik an der Sozialpartnerschaft, die sich durch den ganzen Artikel zieht. Sozialpartnerschaftlich orientierte Gewerkschaftsführungen verdecken zwangsläufig den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit und forcieren automatisch unbefriedigende, den Erwartungen der Beschäftigten hinterherhinkende Ergebnisse in Form von „Billigtarifverträgen“, so die zentrale These. Wenn man eurer These folgt, war die Berliner Krankenhausbewegung von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dadurch, dass ihr euch so sehr an der gebetsmühlenartigen Kritik an der Sozialpartnerschaft und ihren zentralen Akteuren, der gewerkschaftsbürokratischen Führung und dem Kapital, abarbeitet, wird leider der Blick auf die wirklich spannenden Fragen der Berliner Krankenhausbewegung verdeckt. Stattdessen wird immer wieder einseitig betont, wie die ver.di-Führung es verpasst, bzw. genuin kein Interesse an klassenkämpferischen Entscheidungen und Dynamiken hat. Das grundlegende Problem dieser Aussage besteht darin, dass große Gewerkschaften keine monolithischen, uniformen Akteure sind. Sie verfügen über ein spannendes, widersprüchliches Eigenleben und sind eingebettet in allgemeine gesellschaftspolitische Entwicklungen. Die eigentlich spannende Frage ist: Wer kann wann und warum klassenkämpferisch sein? Und wie und wann kann klassenkämpferischer Gewerkschaftsaktivismus erfolgreich sein und sich gegenüber den allmächtigen Kapitalinteressen durchsetzen? Im Folgenden werde ich versuchen, euch zu erörtern an welchen Stellen des Artikels ihr euch mit eurer verkürzten Kritik an der Sozialpartnerschaft den spannenden Fragen der Berliner Krankenhausbewegung verschließt.

Die Grundkritik an der ver.di-Führung scheint am Anfang des Artikel daher zu rühren, dass es bei der CFM (Charité Facility Management) nur zu einem unbefriedigenden Abschluss durch Schlichtung gekommen ist und dass in der Vergangenheit liegende Kämpfe der Töchter ohne die Mutterbeschäftigten geführt wurden. Die eigentlich spannende gewerkschaftspolitische Frage, die sich hier stellt, ist, warum gewerkschaftliche Kämpfe überhaupt erfolgreich sind oder nicht. Was sind die entscheidenden Determinanten für Erfolg und Misserfolg? Sicherlich braucht es eine strategische Gesamteinschätzung und einen Kampagnenplan und ich würde behaupten und da gehe ich mit euch mit, dass es diese Gesamteinschätzung bei ver.di eben nicht wirklich, bzw. nur sehr bedingt gibt und institutionelle bzw. bürokratische Logiken innerhalb des Gewerkschaftsapparats einen effektiven Kampagnenplan oftmals im Voraus verhindern. Die wohl fatalste institutionelle Logik in großen Gewerkschaften ist die der Stellvertreterinnenpolitik – frei nach dem Motto „man macht für die Beschäftigten“ oder dass die Gewerkschaft als Dienstleister gesehen wird. Diese tradierte, immer noch dominante gewerkschaftspolitische Haltung wird in Deutschland vermehrt aufgebrochen durch die sogenannten „Organizing-Ansätze“. Diese haben das Ziel, Mehrheitskonflikte zu gewinnen und Beschäftigte selbst zu Protagonistinnen in ihren eigenen Kämpfen zu machen – eine Grundvoraussetzung für klassenkämpferische Politik.

Im Artikel ist durchweg von der toxischen, sozialpartnerschaftlichen Orientierung der Gewerkschaftsführung die Rede. Dass die selbstbewussten kämpferischen Beschäftigten selbst zentrale Entscheidungen getroffen haben, verschweigt ihr. Dabei haben sich Beschäftigte an Organizing-Prinzipien orientiert – diese werden von euch auch nicht erwähnt. Auch die Rolle des externen Dienstleisters „Organizi.ng“, der zusammen mit den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten das Kampagnendesign entwickelt hat, wird von euch nicht erwähnt. Das Zusammenspiel von Organizi.ng und aktiven Beschäftigten im vergangen Jahr hat überhaupt erst bewirkt, dass die Berliner Krankenhausbewegung ins Leben gerufen wurde.

Was ist hier eigentlich Klassenkampf?

Meine These ist, dass das Agendasetting der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsführung im Fachbereich Gesundheit bei ver.di von klassenkämpferisch orientierten Beschäftigten und Gewerkschaftsaktivist*innen maßgeblich beeinflusst wurde. Genau aus diesem Grund wurde im Kampagnendesign die Einheit aus Töchterbeschäftigten und Beschäftigten aus den Mutterkonzernen Charité und Vivantes angelegt.

Eine weitere interessante Grundsatzfrage, die man auch offen thematisieren kann, ist die Frage, was überhaupt klassenkämpferisch ist. Wer ist wann klassenkämpferisch, wer hat die Deutungshoheit über den Begriff? Man könnte z.B. behaupten, dass selbst der ver.di-Apparat und seine Führung klassenkämpferisch sind, weil sie sich offen gegen die Profitorientierung im Gesundheitswesen in ihrer Form der Finanzierung über DRGs aussprechen und für eine bedarfsorientierte also vergesellschaftete Krankenhausfinanzierung. Insofern erkennt auch ver.di als sozialpartnerschaftlich orientierte Gewerkschaft den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit an und verschleiert ihn an dieser Stelle nicht (by the way: auch ver.di spricht sich für DWE aus). Ich finde, dass eine moderne Arbeiterinnenbewegung die Berücksichtigung dieser analytischen Nuancen verdient. Trotzdem ist und bleibt ver.di eine im bürgerlichen Kapitalismus agierende Organisation, die den Kapitalismus insgesamt nicht überwinden will. Ver.di hat keinen gesellschaftstransformatorischen Anspruch, da bin ich ganz bei euch. Die spannende Frage ist hier jedoch, sollten wir als Sozialistinnen deswegen Gewerkschaften wie ver.di ganz abschreiben oder punktuell ihre Potentiale und Möglichkeiten für echten Klassenkampf nutzen?

Zurück zu den Beschäftigten. Die eigentlichen spannenden Fragen, die neuere Organizing-Ansätze aufwerfen, beziehen sich auf die Art und Weise, wie Beschäftigte eine aus der Vereinzelung, der Skepsis und dem Desinteresse ausbrechende Rolle einnehmen können, die durch eine aktive, selbstbestimmte, klassenkämpferische Haltung geprägt ist. Die Fragen, denen ihr euch nicht stellt sind: „Wie stark sind die Beschäftigten?Was heißt Stärke? Wie können die Beschäftigten effektiv Stärke aufbauen? Wie viel Stärke ist notwendig, um die Forderungen durchzusetzen, ohne Kompromisse eingehen zu müssen? Einer der Sätze, über den ich mich am meisten in eurem Text geärgert habe, ist, dass ver.di viel früher hätte Arbeitskampfmaßnahmen einleiten können und es eine strategische Fehleinschätzung bzw. zögerlich oder sozialpartnerschaftlich gewesen sei, während des 100-tägigen Ultimatums an die Berliner Landesregierung nicht zu streiken. Hier hättet ihr euch besser mit dem Kampagnenplan auseinandersetzen können. Es bringt einfach nichts, das ultimative Allheilmittel Arbeitskampf zu beschwören, wenn es keine Einschätzung zur eigenen Stärke gibt bzw. kein Plan da ist, wie man diese betriebliche Stärke aufbauen kann, die sich am Ende in einem Streik entfesseln soll.

Wovon hängt eigentlich der Erfolg eines Streiks ab?

Wenn man im Krankenhaus streiken will, dann ist das kein einfaches Unterfangen – schon gar nicht in einem deutschen Gesundheitswesen, in dem der gewerkschaftliche Organisationsgrad um die 10 % oszilliert. Bei der Charité lag der Orgagrad am Anfang der Bewegung bei knapp 30 % und bei Vivantes bei knapp 25 % (die Zahlen beziehen sich nicht auf die Gesamtbelegschaft sondern nur auf die Berufsgruppen, die letztendlich von einem Tarifvertrag Entlastung betroffen sind). Insgesamt wurden im Verlauf der Bewegung 2238 Mitglieder gewonnen und der Orgagrad bei den Müttern stieg somit auf circa 40 %, bei dem größten Vivantes-Haus in Neukölln wurden sogar die 50 % geknackt. Jeder einzelne Tag des 100-Tage-Ultimatums war dazu gedacht und angelegt, durch systematische Schritte (Mehrheitspetition, Forderungsfindung, Streikbereitschaftsabfrage, etc.) den Organisationsgrad und damit auch die Kampfkraft der Beschäftigten sukzessiv zu erhöhen. Es hätte absolut keinen Sinn gemacht, vorher zu streiken. Wenn man es genau nimmt, ist ein Orgagrad von 40-50 % auch kein guter Start in eine Streikauseinandersetzung. Dennoch wurde in Berlin gestreikt. Zum einen, weil in Berlin – vor allem an der Charité – überhaupt das erste mal 2011 und 2015 Notdienstvereinbarungen (NDV) erkämpft wurden, mit denen es sich zu streiken lohnt. Davor war ein Streik im Krankenhaus eher ein symbolischer Akt ohne ökonomischen Schaden. Zum anderen träumt jedes andere Krankenhaus in Deutschland von so einem Orgagrad von 40 bis 50 %. Die Berliner Krankenhausbewegung, hier schließe ich die Gewerkschaftssekretär*innen aus dem ver.di Apparat mit ein, war keineswegs gewillt, sich mit einer schlechten NDV abspeisen zu lassen. Es wurde sogar ohne NDV effektiv gestreikt, klassenkämpferisch wie ich finde. Ursprünglich wurden von der Kampagnenleitung, bestehend aus den besonders aktiven Beschäftigten, 16 Erzwingungsstreiktage vorgesehen, um vor den parlamentarischen Wahlen zum Durchbruch zu kommen. Die strategische Voreinschätzung war, wenn ein Ergebnis erzielt wird, dann vor den Wahlen, wenn die Politik, also die eigentlichen Arbeitgeberin, am verwundbarsten ist. Die Einschätzung war falsch. Der Streik dauerte auch nach den Wahlen bis Mitte Oktober an. Die entscheidenden Parameter für einen erfolgreichen Streik könnte man bei der Berliner Krankenhausbewegung auf drei reduzieren:

  1. Organisationsgrad – also Stärke im Betrieb und Streikmacht
  2. Durchhaltevermögen und Stärkeentwicklung im Verlauf eines Streiks (inwiefern ist es überhaupt möglich eine konstant hohe Streikbeteiligung aufrecht zu erhalten?) und
  3. Zivilgesellschaftlicher und politischer Druck.

Punkt 1 und 2 kommen in eurer Analyse nicht vor. Man kann jedoch nicht streiken wann man will und so lange man will und dann noch erwarten, dass das allerbeste Ergebnis am Ende auf einen wartet. Die Streikbeteiligungszahlen, die konstant von uns Organizer*innen und den Beschäftigten gemessen wurden, haben sich verringert – demnach fiel die Streikmacht im Verlauf der Auseinandersetzung. Den Punkt 3 beleuchtet ihr marginal. Zivilgesellschaftliche Bündnisse mit linken und sozialistischen Akteuren werden gelobt, aber eine Analyse der Kapitalseite und warum letztendlich überhaupt Zugeständnisse gemacht worden sind, bleibt aus.

Ist der Tarifvertrag Entlastung bei Charité und Vivantes ein Erfolg?

Kommen wir zu der Einschätzung des Erfolgs der ganzen Bewegung. Hier merkt man wie ich finde, dass ihr euch noch nicht lange mit der Thematik verbindliche Personalbemessungsregelungen im Krankenhaus befasst habt. Ich verstehe nicht ganz, wie ihr zu der pessimistischen Einschätzung im Hinblick auf die Eckpunktepapiere zum Tarifvertrag Entlastung (TVE) bei Vivantes und Charité kommt, zumal die große Mehrheit der Beschäftigten mit denen ich noch im März gesprochen habe eher skeptisch mit Bezug auf die Erfolgsaussichten waren und ihre eigenen Errungenschaften am Ende gefeiert haben. Die dreijährige Laufzeit für einen TVE ist nicht lang. Die bis dato besten TVE Abschlüsse in Jena und Mainz laufen jeweils fünf Jahre und eine stufenweise Einführung von einem Belastungsausgleich macht mehr als Sinn. Fakt ist, es gibt zu wenig Pflegekräfte, die unter den aktuellen Bedingungen den Job ausüben wollen (nach zwei Jahrzehnten kapitalgetriebener, neoliberaler Umstrukturierung des deutschen Gesundheitswesens). Um den Job wieder attraktiv zu machen, braucht es eine Anpassungszeit sonst würden essentielle Elemente der Gesundheitsversorgung wegfallen. Denn die Grundidee ist es, einen Freizeitausgleich zu bekommen, wenn das Verhältnis zwischen Personal und Patientin nicht stimmt. Klar wäre es super, wenn bspw. eine Intensivpflegekraft für jedes Mal, wenn mehr als zwei intensivpflichtige Patientinnen versorgt werden (fachmedizinische Empfehlung und Forderung der Beschäftigten) sofort ein freier Tag generiert werden würde. Wenn diese Maximalforderung im Tarifvertrag stehen würde, müsste mit sofortiger Wirkung eine zu hohe Zahl an Intensivbetten gesperrt werden – insofern ist eine Staffelung zielführend. Bis jetzt gab es an den Berliner Häusern von Charité und Vivantes nichts als Ausgleich für Belastung – jetzt gibt es wirkmächtige freie Tage. An der Charité sind es sogar 5 Belastungspunkte, die in einem freien Tag münden (5, 10 und 15 Tage können in den drei Jahren generiert werden) – das ist nicht wenig, im Gegenteil. Außerdem wurden einzigartige Regelungen für Berufsgruppen getroffen, die es bist jetzt in keinem TVE gibt (OP, Anästhesie, Radiologie und Ambulanzen). Es wurde eine fester Anteil an Praxisanleitung und ein Belastungsausgleich für Auszubildende geregelt. Auch die Erfahrung von physischer Gewalt durch Patientinnen wird mit Belastungspunkten versehen. Am aller wichtigsten sind jedoch die Ratios, also das Betreungsverhältnis von Patientinnen zu Personal, das jeder involvierte Bereich, jede beteiligte Station für sich selbst festgelegt hat. Am Ende waren es die Beschäftigten, die selbst als Expert*innen eigenmächtig ihre Arbeitsbedingungen für die Zukunft gestaltet haben. All diese Aspekte machen die Abschlüsse bei den Müttern zu den besten TVEs in der BRD. Gleichzeitig sind sich alle Beschäftigten bewusst, dass die Klinikleitungen von Charité und Vivantes alles daran setzten werden, Regelungen des TVEs zu umgehen und zu ihren Gunsten zu interpretieren. Genau hier ist die spannende Schnittstelle zwischen der bloßen temporären Verbesserung von Arbeitsbedingungen und einer klassenkämpferischen, systemkritischen Perspektive. Ichhabe persönlich erlebt, wie viele Beschäftigte diesen Schritt gedanklich gehen. Die eigentlich spannende Frage ist, wie man das systemkritische, klassenkämpferische Bewusstsein bei den Beschäftigten dauerhaft vertiefen kann. Darauf habe ich keine Antwort. Aber ich bin mir sicher, dass sich viele, vormals unpolitische und vereinzelte Beschäftigte durch ihren erfolgreichen Klassenkampf in die richtige Richtung bewegt haben. Für revolutionäre, sozialistische Akteure stellt sich nun die Frage, wie man solche Beschäftigte erreicht und organisiert.

Kommen wir zu den Töchtern. Ja, es wäre natürlich schön gewesen, wenn noch länger gemeinsam gestreikt worden wäre. Aber wie gesagt – der Erfolg eines Arbeitskampf hängt von der Vorbereitung und der Stärke ab und letztere ging im Verlauf der Auseinandersetzung verloren, die länger andauerte als von allen erwartet. Schon nach zwei Wochen konnten sich viele Töchterbeschäftigte aufgrund ihrer prekären Lage den Streik nicht mehr leisten – das Streikgeld macht nur 65 % der regulären Einkünfte aus, die während des Streiks ausbleiben. Die Krankenhausbewegung initiierte daraufhin eine starke zivilgesellschaftliche Solidaritätskampagne bei der knapp 76.000 Euro gesammelt wurden, um die Streikenden bei den Töchtern zu unterstützen und den Streikdruck aufrechtzuerhalten. Ohne diese finanzielle Unterstützung hätte der Streik bei den Töchtergesellschaften noch früher an Stärke verloren. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad hat sich im Verlauf der Auseinandersetzung bei den Töchtern verdoppelt – von 18,5 % auf 37,7 % – wobei die Stärke unter den einzelnen Häusern und einzelnen Töchtergesellschaften stark variierte. Letztendlich wurde eine stufenweise Annäherung an den TVÖD erkämpft. Bei der Vivantes Service GmbH (VSG) und Reha sind es bis 2025 96 % und bei Speiseversorgung und Logistik (SVL), Medizinischem Versorgungszentrum (MVZ) und Vivaclean sind es 91 % bis 2025. Es ist nicht der TVÖD, aber nur weil man sich ein guten Abschluss herbeiwünscht, fällt dieser nicht vom Himmel, vor allem nicht bei einem Organisationsgrad von 37,5 %. Dass es überhaupt zu diesen Abschlüssen kam, ohne eine wirklich starke mehrheitliche Organisierung, ist eher dem gesamten Kampagnenverlauf, der pandemisch verursachten öffentlichen Sensibilisierung und dem partizipativen Charakter der Krankenhausbewegung zu verdanken. Es ist eben nicht die Gewerkschaftsführung gewesen, die die zentralen Entscheidungen getroffen hat, sondern es waren die von den über 400 Teams gewählten Teamdelegierten (bei den Müttern und den Töchtern). Ich glaube es wäre viel zielführender, sich kritisch und konstruktiv aus klassenkämpferischer, gesellschaftstransformatorischer Perspektive genau mit den jüngeren gewerkschaftspolitischen Entwicklungen zu beschäftigen, anstatt altgedientes Gewerkschaftsbürokratiebashing zu betreiben.

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Illusion oder Realitäten?

Illusion oder Realitäten? – Welche soziale Gruppe beherrscht die Gewerkschaften in der BRD?

von Kemal, Februar 2022

Bei der Anaylse von gesellschaftlichen Entwicklungen und Klassenkonflikten ist es sehr wichtig, Grundbegriffe und theoretische Hauptkategorien, mit deren Hilfe das Fundament der Analyse gelegt wird, klar und deutlich zu definieren. Einerseits, um die Beliebigkeit zu vermeiden und andererseits auf der Basis von klar definierten Begriffen die gesellschaftliche Realität richtig darstellen zu können und für den Klassenkampf erforderliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Daher werden wir im folgenden Text zuerst versuchen, aus der Sicht des wissenschaftlichen Sozialismus den Inhalt einiger wichtigen Grundbegriffe, die bei der politischen Auseinandersetzung eine erhebliche Rolle spielen, zu klären.

Weder in der Vergangenheit der Menschheit noch in der Gegenwart gibt es homogene Klassen.

Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit einer anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.

Lenin, „Die große Initiative“, in „Lenin Ausgewählte Werke B. III“, Dietz Verlag, 1979, S. 255

Auch die Arbeiterinnenklasse, die nach den von Lenin wissenschaftlich aufgeführten Kriterien eine der beiden Hauptklassen in allen kapitalistisch geprägten Ländern bildet, ist keine homogene, sondern eine heterogene Klasse. In ihren Reihen beherbergt die Arbeiterinnenklasse außer den Industriearbeiterinnen, das Halbproletariat (wie z.B. viele Solo-Kleinfreiberufliche und Solo-Kleinselbständige sowie Kleinbäuerinnen, die auch ihre Arbeitskraft verkaufen müssen), Subproletariat, Angestellte, Erwerbslose usw. usf. Zu der Arbeiterinnenklasse gehören vor allem in den imperialistischen Ländern, wie der BRD als imperialistischer Großmacht, auch überproportional gut bezahlte privilegierte Gruppen der Arbeiterinnenklasse, die aus der Sicht des Machterhalts des Kapitals eine besonders große Bedeutung haben. Zusammen mit den Gruppen der Gewerkschaftsbürokratie bildet diese privilegierte und verbürgerlichte Schicht die Arbeiter*innenaristokratie.

Eine weitere Erscheinung der kapitalistischen Produktionsweise ist eine Arbeiterinnenklasse, die sich selbst als solche nicht begreift. Der Imperialismus schafft für bestimmte (exportorientierte und rohstoffverarbeitende) Kapitalfraktionen immense Extraprofite, welche zu einem Teil an die Arbeiterinnen in den imperialen Zentren mittels besseren Verdiensten und betrieblichen Sozialleistungen (Renten, Prämien, materielle Boni, wie Dienstfahrzeuge und so weiter) ausbezahlt werden. Die Folge ist die Herausbildung einer Arbeiterinnnenklasse, die materiell besser gestellt ist. Lenin bezeichnet sie als „Arbeiterinnenaristokratie“, da sie vom profitierenden Kapital mit den materiellen Sonderleistungen bestochen werde und sich daraus ein Opportunismus gegenüber der kapitalistischen Klasse heraus bilde. Dieser zeigt sich in einem weitgehenden Fehlen von Bewusstsein als Klasse, dem Fehlen eines Verständnisses internationaler Solidarität, sowie der Verteidigung von Kapitalinteressen, um den eigenen ökonomischen Status aufrecht zu erhalten. – Hände weg vom Wedding!

Was aus der Sicht der konsequenten Bekämpfung des Imperialismus und seinen sozialen Stützen für uns wichtig ist, hebt Lenin zurecht wie folgt hervor:

Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ‚Arbeiteraristokratie‘, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht die militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung, Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse (labor lieutenants oft the capitalist class), wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus. Im Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie stellen sie sich in nicht geringer Zahl unweigerlich auf die Seite der Bourgeoisie, auf die Seite der ‚Versaillers‘ gegen die ‚Kommunarden‘. Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der praktischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen.“

Lenin, „Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe“, in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, AW, Bd. II, Dietz Verlag 1979, S.774

Innerhalb der arbeitenden Klasse, vor allem aber in den Reihen der gewerkschaftlich organisierten Reihen der arbeitenden Klasse läuft stets parallel zu dem Klassenkampf zwischen Arbeiterklasse und Kapitalistenklasse auch ein (Klassen-)Kampf zwischen der überwiegenden, erbarmungslos ausgebeuteten und unterdrückten Mehrheit der Arbeiterinnenklasse und der verbürgerlichten und korrumpierten sowie privilegierten Minderheit, der Arbeiterinnen-Aristokratie. Die Arbeiterinnen-Aristokratie beherrscht die Führung aller DGB-Gewerkschaften, bestimmt alle Bereiche des gewerkschaftlichen Lebens in den jeweiligen Gewerkschaften. Die Arbeiterinnen-Aristokratie (verschmolzen mit der Gewerkschaftsbürokratie) entwickelte zur ideologischen und politischen Rechtfertigung ihres Handels sogar eine besondere Ideologie: Die Ideologie der Sozialpartnerschaft, die Politik der Partnerschaft zwischen Arbeiterinnen und Ausbeuterinnen! Das ist die Politik der herrschenden Schicht innerhalb der Arbeiterinnenklasse, deren Ideologie und deren politische Plattform, die Sozialpartnerschaft, die in allen Bereichen der DGB-Gewerkschaften dominiert und welche die Ziele der gewerkschaftlichen Aktivitäten bestimmt. Für die Befreiung der Lohnabhängigen aus dem Ausbeutungsverhältnis Kapitalismus braucht es zuallererst eine unmissverständliche Klarheit über das reaktionäre Wesen der Arbeiterinnen-Aristokratie innerhalb der Arbeiterinnenklasse und innerhalb ihrer größten Massenorganisationen, den Gewerkschaften – von Arbeiterinnen-Räten in revolutionären Zeiten mal abgesehen. Es braucht die Organisierung eines konsequenten und kontinuierlichen Kampfes gegen die Arbeiterinnen-Aristokratie (bzw. Gewerkschaftsbürokratie) und gegen ihre Ideologie der Sozialpartnerschaft in den Gewerkschaften. Anders wird es nicht möglich sein, große Teile der Belegschaften und Millionen Massen von Arbeiterinnen und Angestellten sowie Gewerkschaftsmitglieder für einen konsequenten Klassenkampf gegen das Kapital zu gewinnen und zu mobilisieren. Ohne die Entlarvung der konkreten Form der Politik der Sozialpartnerschaft bei einem Tarifkonflikt oder in den Arbeitskampfmaßnahmen (Streiks) der Gewerkschaftsmitglieder und der Belegschaft eines gegebenen Betriebs oder eines gegebenen Konzerns ist es nicht möglich, den Kampf der Beschäftigten im Geiste des Klassenkampfes zu entwickeln, die wichtigsten und bedeutendsten Ziele der Belegschaft durchzusetzen und die Solidarität innerhalb der Belegschaften auch dadurch zu erhöhen sowie den Interessen der am stärksten ausgebeuteten und unterdrückten Gruppen eine besondere Bedeutung beizumessen.

Das ist genau der Grund, warum in der Stellungnahme von Hände weg von Wedding vom im re:volt-Magazin 19.11.2021 („Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern“) die Entlarvung der Streikstrategie und der Tarifpolitik der Gewerkschaftsführung von ver.di Berlin-Brandenburg bei den Kliniken Charité und Vivantes und ihrer Politik der Sozialpartnerschaft eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Bei der Offenlegung der negativen Rolle der Gewerkschaftsbürokratie bei der Durchführung der Arbeitskampfmaßnahmen, werden vor allem die von Gewerkschaftsbonzen als „Erfolg“ verkauften Ergebnisse kritisch und inhaltlich beleuchtet.

Diese gezielte und bewusste Entlarvung und Demaskierung der sozialpartnerschaftlichen Streik- und Tarifpolitik bei den Berliner Krankenhäusern betrachtet der Genosse Omar Orgagrad als „gebetsmühlenartige“ und „vereinfachte Kritik an der Sozialpartnerschaft“. „Das grundlegende Problem dieser Aussage besteht darin, – erklärt uns Omar – dass große Gewerkschaften keine monolithischen, uniformen Akteure sind. Sie verfügen über ein spannendes, widersprüchliches Eigenleben und sind eingebettet in allgemeine gesellschaftspolitische Entwicklungen. Die eigentlich spannende Frage ist, wer kann wann und warum klassenkämpferisch sein und wie und wann kann klassenkämpferischer Gewerkschafts-Aktivismus erfolgreich sein und sich gegenüber den allmächtigen Kapitalinteressen durchzusetzen.“ Anstatt die wichtigsten und gefährlichsten „Akteure“ innerhalb von ver.di klar und deutlich zu benennen sowie die Gewerkschaftsbonzen als Träger der Ideologie der sozialen Partnerschaft, die mit allen Mitteln versuchten, den Tarifkampf der Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser hinauszuzögern und die Entfaltung der Arbeitskampfmaßnahmen möglichst zu bremsen; anstatt dies als das Haupthindernis zur Entwicklung des Tarifkonflikts zu sehen, flüchtet Omar sich in Akademismus, d.h. aus der Sicht des Klassenkampfes verschleiernde akademische Aussagen wie z.B. „dass große Gewerkschaften keine monolithischen, uniformen Akteure sind.“ oder dass „sie […] über ein spannendes, widersprüchliches Eigenleben“ verfügen „und eingebettet in allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen“ seien. Man muss auch in den Reihen der gewerkschaftlichen Organisationen und innerhalb des gewerkschaftlichen Kampfes genau wissen, wen die Arbeiterinnen zu ihren „Freunden“ und wen sie zu ihren „Gegnern bzw. Feinden“ zählen können und müssen. Zu den Hauptgegnern bei allen wichtigen tariflichen Auseinandersetzungen gehören die sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaftsführungen, die die Politik der Sozialpartnerschaft als „monolithisches“ und „ehernes Gesetz“ bei allen Tarifkonflikten sehen und handeln. Nur in den Tarifkonflikten kann es den kämpfenden Beschäftigten gelingen, einen konsequenten und erfolgreichen Tarifvertrag gegenüber den Kapitalbesitzern durchzusetzen, wo es den Beschäftigten gelingt, den Einfluss der Gewerkschaftsbonzen von Beginn an zu bekämpfen und einen eigenständigen Tarifkampf zu entwickeln. Ohne explizit auf die enorme Gefahr hinzuweisen, die wegen der dominierenden Macht der sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaftsführungen besteht und den Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie auf die kämpfenden Arbeiterinnen hervorzuheben, und sich stattdessen auf einige harmlose akademische Hinweise zu beschränken, bedeutet faktisch nichts anderes als die Verharmlosung einer großen Gefahr innerhalb der Gewerkschaften.

Genosse Omar geht bei der Verharmlosung der Gefahr, die durch die Dominanz der Arbeiteraristokratie innerhalb der Gewerkschaften herrührt, erheblich weiter und versucht, sie sogar in positives und kämpferisches Licht zu stellen. Nach Einschätzung von Genossen Omar, erkenne auch „ver.di als sozialpartnerschaftlich orientierte Gewerkschaft den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit“ an „und verschleiert ihn an dieser Stelle nicht (by the way: auch ver.di spricht sich für DWE aus.). Omar führt weiter aus: „Ich finde, dass eine moderne Arbeiterinnenbewegung die Berücksichtigung dieser analytischen Nuancen verdient. Trotzdem ist und bleibt ver.di eine im bürgerlichen Kapitalismus agierende Organisation, die den Kapitalismus insgesamt nicht überwinden will. Ver.di hat keinen gesellschafts-transformatorischen Anspruch, da bin ich ganz bei euch. Die spannende Frage ist hier jedoch, sollten wir als Sozialistinnen deswegen Gewerkschaften wie ver.di ganz abschreiben, oder punktuell Potentiale und Möglichkeiten für echten Klassenkampf nutzen?“. Die Krönung der Lobeshymnen für ver.di gipfelt in der Aussage, dass die „Berliner Krankenhausbewegung und hier schließe ich die Gewerkschaftssekretär*innen aus dem ver.di-Apparat mit ein, keineswegs gewillt waren, sich mit einer schlechten NDV (Notdienstvereinbarung, Anm. d. Verf.) abspeisen zu lassen, sondern es wurde sogar ohne NDV effektiv gestreikt, klassenkämpferisch wie ich finde.“

Wenn man seine Aufmerksamkeit nicht auf die „analytischen Nuancen“, sondern auf die wesentlichen Fragen des Klassenkampfes auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung konzentrieren würde, so würde man zwangsläufig zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Arbeiter*innen-Aristokratie und ihre Mitglieder in den Gewerkschaften wie ver.di nicht nur „keinen gesellschafts-transformatorischen Anspruch“ haben, sondern sich als einen den Kapitalismus stützenden und schützenden Ordnungsfaktor verstehen.

Die sogenannte „Konfliktfähigkeit“ ist mit der Ideologie und Politik der Sozialpartnerschaft sehr gut vereinbar. Dazu schreibt die bundesrepublikanische Denkfabrik der Gewerkschaftsaristokratie, die Hans-Böckler-Stiftung, zurecht Folgendes:

Die Praxis der Sozialpartnerschaft im industriellen Sektor basiert auf potenziell konfliktfähigen Akteuren, die diese Fähigkeit in einem professionalisierten Alltagshandeln und in vielen kleineren Konflikten zum Ausdruck bringen und deren Handlungsmacht insbesondere über gestaltende Elemente deutlich wird. Damit zeichnet sich trotz sich intensivierender Globalisierung ein für die deutsche Ökonomie zentraler Bereich weiterhin durch eine grundsätzlich konfliktpartnerschaftliche Struktur aus, womit zugleich eine gewisse Strukturierung der politischen Ökonomie als exportorientierter Institutionenordnung stattfindet

Anke Hassel, Wolfgang Schroeder, „Gewerkschaften 2030” in „WSI Report Nr. 44“ November 2018

Das Grundsatzprogramm des Gewerkschaftsdachverbandes, DGB, spricht diesbezüglich eine unmissverständlichen Sprache: „Die parlamentarische Demokratie ist für uns die einzige Regierungsform, die Freiheit und Demokratie ermöglicht.“ (Grundsatzprogramm des DGB, 1996, S. 26)

Ebenso dessen Satzung: „Der Bund und die in ihm vereinigten Gewerkschaften sind demokratisch
aufgebaut. Sie bekennen sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung
der Bundesrepublik Deutschland
“ (Satzung des DGB, 2018, §2 Abs. 1 b)

Auch seitens ver.di gibt es zur Verteidigung des imperialistischen BRD-Staates, den der DGB in demagogischer Weise als „demokratischen und sozialen Rechtsstaat“ darstellt, keine Missverständnisse: „4. ver.di ist bereit, alle gewerkschaftlichen Mittel einzusetzen, um diese Grundsätze und Ziele zu verwirklichen. Das schließt das Widerstandsrecht zur Verteidigung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 4 GG) ein.“ (ver.di-Satzung, 12. Oktober 2021)

Das sind unmissverständliche Aussagen der Gewerkschaftsbonzen. Sie halten die sogenante „parlamentarische Demokratie“, d. h. die Diktatur des Kapitals in parlamentarischer Form, die dem Kapital alle Freiheiten bezüglich der Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse gewährleistet, für „die einzige Regierungsform, die Freiheit und Demokratie ermöglicht“. Man darf sich keine Illusionen darüber machen, dass sowohl alle Arbeiter-Aristokrateninnen des DGB und im konkreten die Gewerkschaftsbonzen von ver.di jeden gewerkschaftlichen Kampf, der die kapitalistische Ordnung in der BRD beschädigt oder schwächt, jedem politischen Massenstreik, der die Macht der kapitalistischen Marktwirtschaft in Frage stellen würde, jeden Arbeiterinnen-Aufstand gegen den kapitalistisch-imperialistischen Ausbeuterstaat mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen werden.

Auch wenn die DGB-Gewerkschaften wie z.B. ver.di oder IG-Metall eine reaktionäre und rückwärtsgewandte Politik vertreten, darf keine konsequent kämpferischer Arbeiterin daraus die Schlussfolgerung ziehen, in diesen reaktionären Gewerkschaften gewerkschaftspolitisch nicht zu arbeiten oder – wie Omar uns im oben angeführten Zitat unterstellt – „Gewerkschaften wie ver.di ganz abzuschreiben.“

Im Angesicht einer bürgerlich-reaktionären Gewerkschaftsführung, die klassenkämpferische Mitglieder und Kommunistinnen in den Gewerkschaften nicht nur diskreditiert sondern aktiv bekämpfte, denunzierte und ausschloss, wendeten sich die bolschewistischen Revolutionäre dennoch nicht von diesen Massenorganisationen der Arbeiterschaft ab. Im Gegenteil: Lenin betonte die Dringlichkeit, mit der sich Kommunistinnen diesen reaktionären Sanktionen widersetzen und entziehen müssen, um entgegen aller Widrigkeiten in den Gewerkschaften aktive Arbeit leisten zu können:

Doch den Kampf gegen die ‚Arbeiteraristokratie‘ führen wir im Namen der Arbeitermassen und um sie für uns zu gewinnen; den Kampf gegen die opportunistischen und sozialchauvinistischen Führer führen wir, um die Arbeiterklasse für uns zu gewinnen. Diese höchst elementare und ganz augenfällige Wahrheit zu vergessen wäre eine Dummheit. Und gerade diese Dummheit begehen die ‚linken“ deutschen Kommunisten, die aus der Tatsache, dass die Spitzen der Gewerkschaften reaktionär und konterrevolutionär sind, den Schluss zu ziehen, dass man […] aus den Gewerkschaften austreten, die Arbeit in den Gewerkschaften ablehnen und neue, ausgeklügelte Formen von Arbeiterorganisationen schaffen müsse. Das ist eine so unverzeihliche Dummheit, dass sie dem grössten Dienst gleichkommt, den Kommunisten der Bourgeoisie erweisen können.

Lenin, AW, Bd. III, Dietz Verlag 1979, S. 422-423

Weiter:

Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten heißt die ungenügend entwickelten und rückständigen Arbeitermassen dem Einfluss der reaktionären Führer, der Agenten der Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten oder der ‚verbürgerten Arbeiter‘ […] überlassen.

Lenin, AW, Bd. III, Dietz Verlag 1979, S. 424-425

Auch wenn die historische Situation der Bolschewisten eine andere darstellte, so lassen sich durchaus Parallelen zu unserer heutigen ziehen, gerade in Bezug auf den bürgerlichen Charakter der Gewerkschaften und die Sanktionierung offen kommunistisch oder auch nur kämpferisch auftretender Kolleg*innen in ihnen.

Inflationäre Terminologie

Klassenkampf – klassenkämpferisch – klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik

Genosse Omar formuliert in seinem kritischen Text an mehreren Stellen die Frage, was „klassenkämpferisch“ bedeute, gibt aber keine Antwort auf diese wichtige Frage. Klassenkampf ist keine ideologische „Erfindung“ der sozialistischen Bewegung, sondern eine objektive gesellschaftliche Tatsache, der sich in jeder Klassengesellschaft mit antagonistischen Interessen abspielt. In der menschlichen Geschichte spielt der Klassenkampf auch eine enorm fortschrittliche Rolle. Er ist der eigentliche Motor der gesellschaftlichen Entwicklung. Vor dem Entstehen einer sozialistischen Bewegung konnten die bürgerlichen Wissenschaftlerinnen die Existenz der Klassen und des Klassenkampfes sowie die des Interessenwiderspruchs zwischen Arbeit und Kapital wahrnehmen und deren Entwicklung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen analysieren. Der Klassenkampf im Allgemeinen und der Klassenkampf der Arbeiterinnenklasse im Besonderen wird nicht selten nur auf den praktisch-ökonomischen Kampf, in dem sich z.B. die Arbeiterinnen zur Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen innerhalb des Kapitalismus einsetzen, also für sogenannte Teilforderungen kämpfen, reduziert. Diese Form des Klassenkampfes ist die am meisten verbreitete und für breite Teile der großen Massen der werktätigen Klasse die am einfachsten wahrnehmbare und durchführbare Form des Klassenkampfes. Die Streiks sind z. B. eindeutige Aktionsformen des Klassenkampfes. Warum? Weil Streiks die Mitglieder einer Klasse (der Arbeiterinnenklasse) gegen ein Mitglied oder gegen eine Gruppe der der Kapitalist*innenklasse stellen. Trotzdem wäre es von Grund auf falsch, den Klassenkampf nur auf diese eine Form zu reduzieren.

Klassenkampf besteht aus drei wichtigen Bestandteilen, die in einem kausalen und untrennbaren Zusammenhang stehen:

  1. Praktisch-ökonomischer
  2. politischer und
  3. theoretischer Klassenkampf.

Die Grundvoraussetzung eines nachhaltigen und erfolgreichen Klassenkampfes ist eben die einheitliche Anerkennung und die einheitliche Durchführung des Klassenkampfes. Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, legten einen großen Wert darauf, eine umfassende Theorie des proletarischen Klassenkampfes zu entwickeln und wichtige theoretische und politische Waffen in die Hände der Arbeiterinnenklasse zu legen. Sie entwickelten auch bezüglich der Gewerkschaften der Arbeiterinnenklasse eine klassenkämpferische Theorie, wonach es auch möglich ist, wissenschaftlich und klar definieren zu können, was klassenkämpferisch ist und was es nicht ist.

Karl Marx wies stets auf die enorme Bedeutung des ökonomischen Kampfes und auf die wichtige Rolle der Gewerkschaften für die Arbeiter*innenklasse.

Diese wenigen Andeutungen werden genügen, um zu zeigen, daß die ganze Entwicklung der modernen Industrie die Waagschale immer mehr zugunsten des Kapitalisten und gegen den Arbeiter neigen muß und daß es folglich die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion ist, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken oder den Wert der Arbeit mehr oder weniger bis zu seiner Minimalgrenze zu drücken. Da nun die Tendenz der Dinge in diesem System solcher Natur ist, besagt das etwa, daß die Arbeiterklasse auf ihren Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals verzichten und ihre Versuche aufgeben soll, die gelegentlichen Chancen zur vorübergehenden Besserung ihrer Lage auf die bestmögliche Weise auszunutzen? Täte sie das, sie würde degradiert werden zu einer unterschiedslosen Masse ruinierter armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft. Ich glaube nachgewiesen zu haben, daß ihre Kämpfe um den Lohnstandard von dem ganzen Lohnsystem unzertrennliche Begleiterscheinungen sind, daß in 99 Fällen von 100 ihre Anstrengungen, den Arbeitslohn zu heben, bloß Anstrengungen zur Behauptung des gegebnen Werts der Arbeit sind und daß die Notwendigkeit, mit dem Kapitalisten um ihren Preis zu markten, der Bedingung inhärent ist, sich selbst als Ware feilbieten zu müssen. Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.

Karl Marx „Gewerkschaften als Sammelpunkt des Widerstands gegen das Kapital“ aus „Lohn, Preis und Profit“, in „Karl Marx und Friedrich Engels über die Gewerkschaften“, Tribüne Verlag 1953, S. 110-111

Marx bleibt hier allein mit dem Hinweis auf die Bedeutung des ökonomischen Kampfes nicht stehen. Er hebt gleichzeitig die Entwicklung des Klassenkampfes auf eine höhere, politische Qualität, hervor:

Gleichzeitig, und ganz unabhängig von der allgemeinen Form, die das Lohnsystem einschließt, sollte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe nicht überschätzen. Sie sollte nicht vergessen, daß sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; daß sie zwar die Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; daß sie Palliativmittel anwendet, die das Übel nicht kurieren. Sie sollte daher nicht ausschließlich in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten des Kapitals oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht. Sie sollte begreifen, daß das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind. Statt des konservativen Mottos: ‚Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!‘, sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: ‚Nieder mit dem Lohnsystem‘ Nach dieser sehr langen und, wie ich fürchte, ermüdenden Auseinandersetzung, auf die ich mich einlassen mußte, um dem zur Debatte stehenden Gegenstand einigermaßen gerecht zu werden, möchte ich mit dem Vorschlag schließen, folgende Beschlüsse anzunehmen:

1. Eine allgemeine Steigerung der Lohnrate würde auf ein Fallen der allgemeinen Profitrate hinauslaufen, ohne jedoch, allgemein gesprochen, die Warenpreise zu beeinflussen.


2. Die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion geht dahin, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken.


3. Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.

Karl Marx „Gewerkschaften als Sammelpunkt des Widerstands gegen das Kapital“ aus „Lohn, Preis und Profit“, in „Karl Marx und Friedrich Engels über die Gewerkschaften“, Tribüne Verlag 1953, S. 110-111

Diese hervorragende wissenschaftliche Darlegung Marx‘ ermöglicht uns auch, an dieser Stellen folgende Schlussfolgerungen zu ziehen: Eine Gewerkschaft oder eine Bewegung ist dann klassenkämpferisch, wenn diese sich nicht nur gegen die Wirkungen, sondern auch gegen die Ursachen der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterinnenklasse richtet. Eine Gewerkschaft, eine Bewegung oder Streik sind klassenkämpferisch, wenn sie den gegebenen Kampf als „Hebel zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems“, d.h. als Hebel zur Abschaffung des kapitalistischen Systems sehen. Das bedeutet aber nicht, dass die Arbeiterinnen, wie die Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser, die sich im praktisch-ökonomischen Kampf zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen einsetzen, d. h. Teilforderungen bzw. Reformforderungen stellen, dass diese Arbeiterinnen einen reformistischen Kampf führen. Die Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser setzen sich in ihren Arbeitskampfmaßnahmen für Reformen und für Teilforderungen ein und kämpfen ehrlich und mutig für diese Ziele. Sie entwickeln aus dem Kampf für Reformen, aus dem Kampf für Teilforderungen keine besondere Ideologie, keine besondere politische Linie wie z.B. die Ideologie der Sozialpartnerschaft, die Ideologie und die politische Linie des Reformismus. Dies tun aber dagegen die eingefleischten Verteidigerinnen des Reformismus, die Gewerkschaftsbonzen, ein Großteil der Gewerkschaftssekretär*innen, die jede revolutionäre und klassenkämpferische Entwicklung in den Gewerkschaften und in gewerkschaftlichen Konflikten bekämpfen. Wenn man aus der Notwendigkeit des Kampfes für Reformen eine besondere politische Linie entwickelt, nicht die Abschaffung des Ausbeutungssystems, sondern die Verbesserung des Systems durch Reformen als die Perspektive des Kampfes darstellt, steht man auf der Basis des Reformismus. Für die Masse der Beschäftigten, die sich gegen die „Gewalttaten des Kapitals“ zur Wehr setzen, geht es dabei nicht um die Verteidigung der Ideologie des Reformismus, sondern um die konkrete Verteidigung zur Verbesserung ihrer Existenzbedingungen oder um die Verhinderung einer Verschlechterung ihrer sozialen Lage. Sonst „würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich die Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.“

Eine Besonderheit des Reformismus sozialpartnerschaftlicher Prägung ist, dass die Gewerkschaftsbonzen mit dem Herrschaftssystem über viele Mechanismen so fest verwachsen sind, dass sie selbst den ökonomischen Kampf, den Kampf der Teilforderungen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnenklasse weitgehend lähmen und behindern. Für sie gilt selbst der ökonomische Kampf, wie z.B. Streiks als ultima ratio Absprachen hinter verschlossenen Türen, widerstandslose Unterwerfung den Vorgaben der politischen Institutionen, Akzeptieren von (Zwangs-)Schlichtungen, politische Bündnisse mit Arbeitgeberinnen-Verbänden (einst das sogenannte Bündnis für Arbeit) usw. usf. sind einige der häufigsten Mittel des Verzichts auf den ökonomischen Kampf und des Ausverkaufs der Teilforderungen der Arbeiterinnenklasse. Die Gewerkschaftsbonzen sehen sich in der Regel nur dann zur ultima ratio gezwungen, wenn ihre „Sozialpartner“, die Kapitalvertreterinnen sich vehement gegen mögliche Vereinbarungen oder Tarifverträge stellen oder der Druck in der Belegschaft zu groß ist. Wenn der Kampf unvermeidbar war, versuchen die Gewerkschaftsführungen stets den Kampf auf niedrigstem Niveau zu halten und beim Abschluss eines Kompromisses die Belegschaft für eine lange lange Zeit in die Passivität zu zwingen. So wie im Beispiel des Abschlusses der aktuellen Tarifvereinbarung bei Charité und Vivantes, wo sich die ver.di-Fachbereichsführung auf eine Laufzeit von 3 Jahren geeinigt hat.

Auch diese Erfahrung zeigt uns, wie enorm wichtig es ist, dass die kämpferischen Beschäftigten in den Betrieben von Anfang an kein Vertrauen auf die Gewerkschaftsbonzen schenken, sondern ein ausgeprägtes Misstrauen an den Tag legen und gemeinsam mit ihren weiteren kämpferischen Kolleginnen in der Belegschaft die Geschicke, die Führung der Arbeitskampfmaßnahmen und Tarifverhandlungen in ihre eigene Hand nehmen sollten. In Berlin gibt es in der Hinsicht folgende Beispiele: Die von erfolgreichen und selbstbewussten und kämpferischen Beschäftigten geführten Kämpfe wie die der Beschäftigten des Botanischen Garten Berlins (siehe dazu die Broschüre „Der Aufstand der Töchter“, VSA Verlag) oder die der Beschäftigten der CPPZ, ehemals ausgelagerter Betrieb der Physiotherapeuteninnen und Therapeut*innen am Präventionszentrum der Charité. Beide Belegschaften haben eine weitaus geringere Personalstärke als bei den Muttergesellschaften der Charité oder Vivantes.

Ob betriebliche Konflikte wie Tarifverhandlungen und Streiks auf der Grundlage von sozialpartnerschaftlichen oder klassenkämpferischen Leitsätzen geführt werden, spiegelt sich automatisch auch in der Streikstrategie und der Tarifstrategie wider. Für die Vertreter*innen der Sozialpartnerschaft sind Streiks höchstens als „ultima ratio“-Handlung annehmbar, d. h. dass die Streikstrategie darauf ausgerichtet ist, auf einen Streik möglichst zu verzichten. Und falls Streiks aufgrund des kompromisslosen Vorgehens des Tarifpartners stattfinden sollten, dann sollten sie beim ersten Zeichen der Kompromissbereitschaft der Gegenseite umgehend eingestellt werden. Die Intensität des Arbeitskampfes zu erhöhen, den Gegner niederzuwerfen, in einem hartnäckigen Kampf das Bewusstsein und die Kampffähigkeit zu stärken, sind so große Gefahren, die den „sozialen Frieden“ im Betrieb stören würden und die deswegen unbedingt zu vermeiden sind.

Abschluss eines Tarifvertrags (in der Regel auf niedrigem Niveau) ist der wichtigste Beweggrund und die wichtigste Zielsetzung der Gewerkschaftsbürokratie. Durch Abschluss eines Tarifvertrags würden dann die Interessen beider Seiten befriedigt und der „Betriebsfrieden“ wiederhergestellt.
Für einen klassenbewussten Lohnabhängigen sind hartnäckige und konsequente Streiks die Grundvoraussetzung für den Erfolg einer betrieblichen Auseinandersetzung. Daher wird eine kämpferische betriebliche Aktive versuchen, auch aus einem kleinen betrieblichen Konflikt ein Potential zur Einleitung eines Streiks zu organisieren und die Belegschaft in den Kampf zu mobilisieren.

„Einer der Sätze, über den ich mich am meisten in eurem Text geärgert habe,“ – so der Genosse Omar Orgagrad – „ist, dass ver.di viel früher hätte Arbeitskampfmaßnahmen einleiten können und es eine strategische Fehleinschätzung bzw. zögerlich oder sozialpartnerschaftlich gewesen sei während des 100-tägigen Ultimatums an die Berliner Landesregierung nicht zu streiken.“ an einer anderen Stelle gibt er eine Einschätzung in Bezug auf die Durchsetzungsfähigkeit der Streiks vor der Wahlen in Berlin: „Ursprünglich wurden von der Kampagnenleitung, bestehend aus den besonders aktiven Beschäftigten, 16 Erzwingungsstreiktage vorgesehen, um vor den Wahlen zum Durchbruch zu kommen. Die strategische Voreinschätzung war, wenn ein Ergebnis erzielt wird, dann vor den Wahlen, wo die Politik, die eigentlichen Arbeitgeber*innen, am verwundbarsten ist. Die Einschätzung war falsch.“

Falsch war nicht die Einschätzung, dass die Berliner Landesregierung in der Zeit vor den Wahlen am verwundbarsten war! Die Einschätzung ist richtig gewesen. Falsch war es, dass eine dermaßen langandauernde „Ultimatumszeit“ ohne eine Einleitung von Streiks, ohne den effektiven Druck von Arbeitskampfmaßnahmen nicht genutzt wurde. Falsch war es, dass man bei der Festlegung der Streikstrategie nicht davon ausgegangen war, dass Arbeitskampfmaßnahmen selbst über einen enorm mobilisierenden Effekt, eine für neue Mitglieder organisierende Qualität verfügen können. Falsch war die Annahme, dass die Berliner Koalition aus RRG (RotRotGrün), die Organisato*innen der outgesourcten und prekär Beschäftigen in den Berliner Kliniken nicht als Gegnerinnen, sondern als „Partner*innen“ angesehen wurden und dass die Streikstrategie auf ein möglichst kurzes Zeitfenster ausgerichtet war, um eben die vermeintliche „politische Partnerin“, die Berliner Koalitionsregierung, bei den Wahlen nicht zu beschädigen!
Die Tarifstrategie aus einer klassenkämpferischen Perspektive sollte auch darauf ausgerichtet sein, den Abschluss von Tarifverträgen ausschließlich als notwendige Feuerpause für den nächsten Kampf anzusehen. Damit die Tarifverträge, d.h. die erforderlichen Feuerpausen, die Belegschaft bzw. ihre Kampfkraft nicht lange lähmt, die sogenannte „Friedenspflicht“ die betrieblichen Kämpfe nicht behindert, wird jede klassenkämpferische betriebliche Aktive grundsätzlich lange Laufzeiten bei Tarifabschlüssen ablehnen. Für einen kämpferischen betrieblichen Akteur sollte bei Tarifverträgen immer das Prinzip gelten: „Je kürzer, desto besser!“

Auch bei diesem Punkt ist der Genosse Omar einer grundsätzlich anderen Meinung. „Die dreijährige Laufzeit“– so die Einschätzung von Omar in Bezug auf das Ergebnis der Tarifverhandlungen bei den Berliner Kliniken – „ist nicht lang.“ Immer häufiger schließt die sozialpartnerschaftlich orientierte Führung von ver.di Tarifverträge mit solch langen Laufzeiten ab, z.T. von bis zu fünf Jahren! Die lähmende Wirkung auf die Gewerkschaftsmitglieder und auf die Belegschaften ist fatal. Auch bei dem Punkt befindet sich der Genosse Omar mit der Gewerkschaftsbürokratie und ihrer sozialpartnerschaftlichen Ideologie auf gleicher Linie.

Organizing in den Gewerkschaften

Verschleierung des Grundübels durch Methodenfrage

Die ersten gewerkschaftlichen Organisationen, die das Modell des Organizing zum ersten Mal in die gewerkschaftliche Arbeit aufgenommen und zu einer der wichtigsten strategischen Mitgliederwerbung entwickelten, waren US-amerikanische Gewerkschaften wie z. B. die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU (Service Employees International Union) und UNITE-HERE (Hotel Employees and Restaurant Employees – HERE) und Union of Needle Trades Employees-Hotel- und Restaurantarbeitergewerkschaft oder der relativ neue gewerkschaftliche Dachverband Change to Win. Die Gründe, die viele US-amerikanische Gewerkschaften und ihre Dachverbände dazu bewegten, intensiv nach neuen gewerkschaftlichen Modellen zu suchen, waren von existentieller Bedeutung: Seit den 70er Jahren setzte sich in den herrschenden Kreisen der US-amerikanischen Politik immer mehr die Erkenntnis durch, auf der Jagd nach Maximalprofit und in immer erbittertem Konkurrenzkampf mit mehreren imperialistischen Großmächten, die bisherige „sozialpartnerschaftliche Politik“ mit den Gewerkschaften aufzukündigen. Dazu sollten die „sozialen Schranken und Grenzen der Marktwirtschaft“ weitgehend vernichtet werden. Stattdessen sollte ein neues Wirtschaftsmodell, der Neoliberalismus mit all seinen untrennbaren toxischen Rezepten, wie z.B. Deregulierung, Outcourcing, Privatisierung, Kommerzialisierung der gesamten öffentlichen Daseinsversorgung usw. usf. Etabliert werden. Statt „Sozialpartnerschaft“ war nun die Devise der herrschenden Konzerne in den USA „Union Busting“. Eine aggressive Strategie zur Bekämpfung von Gewerkschaften und den Rechten der Arbeiter*innenklasse.

Die Wahl von Ronald Reagan zum US-Präsident im Jahre 1981 eröffnete dem Kapital die Möglichkeit, die Politik des Neoliberalismus ungezügelt in allen Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft zu etablieren und durchzusetzen. Die offene und aggressive Bekämpfung der Gewerkschaften wurde unter Reagan zur Regierungspolitik.

Und so wie Margret Thatcher die britischen Gewerkschaften im großen Bergarbeiterstreik bezwang, triumphierte Reagan in einer Auseinandersetzung um einen Streik der Fluglotsen im Sommer 1981 über die US-Gewerkschaften. Obwohl Hunderttausende zu den Demonstrationen zur Unterstützung der Streikenden strömten, blieb Reagan hart und setzte Massenentlassungen der Fluglotsen durch – eine historische Niederlage der amerikanischen Arbeiterbewegung. Auf diese einseitige Aufkündigung der Sozialpartnerschaft folgten fast vier Jahrzehnte der Defensive und Schwächung der Gewerkschaften: Mitgliederzahlen und Tarifbindung brachen ein, während der prekäre Niedriglohnsektor explodierte und ganze Branchen heute fast gewerkschaftsfrei sind. Eine Entwicklung, wie sie in einigen Bereichen auch in Deutschland zu beobachten ist, in den USA aber weit ausgeprägter stattfindet.

Jane McAlevey, „Keine halben Sachen“, VSA Verlag 2019

Die unmittelbaren Folgen auf die Gewerkschaftsbewegung in den USA waren verheerend: rasanter Verlust von Mitgliedern, enormer Rückgang von gewerkschaftlichem Organisierungsgrad sowie schwindende Tarifmacht. Jeder Versuch der Gewerkschaftsbonzen, die herrschenden Politik- und Wirtschaftskreise des US-Imperialismus von der Rückkehr des Neoliberalismus hin zur alten und gewohnten ’sozialen‘ Marktwirtschaft mit ’sozialem‘ Antlitz verhallten an der nackten Realität der explodierenden Profite der Finanzbarone und der Monopolbourgeoisie. Die bisherigen sozialpartnerschaftlichen Appelle an die Vernunft des Managements der Unternehmen und CEOs und die geltenden gewerkschaftlichen Organisierungsstrategien, in deren Mittelpunkt der gewerkschaftliche hauptamtliche Apparat und die hauptamtliche Gewerkschaftssekretär*in als „Generalist*innen“ standen, stellten sich als hilflos dar. Es ging für viele US-amerikanische Gewerkschaften im wahrsten Sinne des Wortes um die „nackte Existenz“ ihrer Organisation und um den Erhalt der Existenz der privilegierten Schicht der Arbeiter*innen-Aaristokratie und der Gewerkschaftsbürokratie. Am Ende der Diskussion blieben zwei Wege als Rettungsanker: 1. Fusion mit anderen (ebenfalls von massivem Mitgliederverlust geschwächten) Gewerkschaften und 2. Einführung von neuen Mitgliederwerbungs- und Mobilisierungsmethoden.

Dazu wurden drei Leitlinien entwickelt:

  • mitgliederorientiert sein,
  • beteiligungsorientiert sein
  • und konfliktorientiert sein.

Dieser neue Ansatz wurde Organizing genannt und als solcher nicht nur in den USA, sondern weltweit bekannt.

Diese Leitlinien bedeuteten einerseits einen teilweisen Rückzug von den bisher geltenden eisernen Regeln der konfliktvermeidenden und auf die Pflege der Beziehungen mit dem sogenannten Sozialpartner, dem Arbeitgeber, konzentrierten Co-Managementpolitik. Die Aufgabe einiger bisher geltenden Regeln wurden von Beginn an bewusst sehr begrenzt konzipiert und in die bisherige gewerkschaftliche Politik integriert, ohne den Inhalt, den Geist der bisherigen sozialpartnerschaftlich orientierten Politik infrage zu stellen. Die neuen Leitlinien sollten ausschließlich auf die betriebliche Ebene der Gewerkschaftsstrukturen und der Gewerkschaftsarbeit beschränkt sein. Sie sollten nicht auf die weiteren wichtigen Ebenen der Gewerkschaftsstruktur ausgeweitet werden. Eine weitere wichtige Einschränkung der Anwendung des Organizing bedeutete, dass die neuen Organizingprinzipien von den Unternehmen und Betrieben, in denen „die Sozialpartnerschaft und das Co-Management“ noch funktionierten, ferngehalten werden sollten, damit sie in keinster Weise das Co-Management stören. Der Geltungsbereich des Organizing war in erster Linie auf Betriebe und Bereiche beschränkt, in denen prekäre Beschäftigung und aggressive antigewerkschaftliche Managementpolitik herrschten. Ebenso sollten Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um mögliche Gefahren, welche durch die Organizing-Leitlinien der Gewerkschaft entstehen könnten, z.B. durch Mitgliederorientierung oder Konfliktorientierung, möglichst im Keim zu ersticken. Parallel zu der Einführung von Organizing-Leitlinien nahm z. B. die Führung von SEIU auch einige wenige Rechte ihrer lokalen Organisationen weg und entmachtete weitgehend den Einfluss der lokalen Organisationen.

Hae-Lin Choi/Catharina Schmalstieg schreiben dazu im Sammelband „Organizing. Neue Wege gewerkschaftlicher Organisation“:

Um die ehrgeizigen Pläne umzusetzen, zentralisiert die Gewerkschaftsführung kontinuierlich Machtkompetenzen in der Bundeszentrale in Washington D.C. und entmachtet die Ortsverbände, die sogenannten locals. Diese ‚lokalen‘ Einheiten, die ursprünglich eine große Autonomie genossen, über eigene lokal und demokratisch gewählte Präsidenten und Vorstände verfügten, werden zu überregionalen Großverbänden mit hunderttausenden Mitgliedern, verteilt über mehrere Bundesstaaten, fusioniert – um Kosten zu sparen und Kräfte zu bündeln. Meist werden die neuen Führungskräfte dieser zwangsfusionierten locals von der Bundes-SEIU und nicht von der lokalen Mitgliedschaft bestimmt. Dies führt nicht nur dazu, dass sich die Entfernung zwischen Mitglied in Bundesstaat A und lokaler Gewerkschaftsführung in Bundesstaat Z erheblich vergrößert, sondern auch dazu, dass das Mitglied seine eigene Gewerkschaftsführung weder kennt noch wählen kann.

Hae-Lin Choi/Catharina Schmalstieg; „Licht und Schatten“, in Juri Hälker (Hrsg.)„Organizing. Neue Wege gewerkschaftlicher Organisation“, VSG-Verlag, 2008, S. 60

Da es der Gewerkschaftsführung der SEIU nicht um die tatsächliche Veränderung der sozialpartnerschaftlich und co-managementorientierten Gewerkschaftspolitik, noch um die Stärkung einer demokratischen Struktur auf allen Ebenen der Gewerkschaft ging, sondern hauptsächlich um das Wachstum der Mitgliederzahlen und Mitgliederbeiträge, intensivierte die Führung der SEIU sozialpartnerschaftliche Abkommen mit vielen US-amerikanischen Arbeitgebern in der Branche.

In der Vergangenheit hat die Bundesspitze der SEIU zahlreiche Neutralitätsabkommen mit US-weit agierenden Gesundheitsunternehmen abgeschlossen, die zwar Organisierungsrechte für Zehntausende von Beschäftigten; in vielen Betrieben garantieren, im Gegenzug aber weitreichende Konzessionen von der SEIU verlangen (Schmalstieg 2008). Diese beinhalten etwa vorab verhandelte Tarifverträge mit geringen Verbesserungen für die Beschäftigten, einen Verzicht auf Streiks (Labour Peace) und Tariflaufzeiten von bis zu 20 Jahren, die Bedingung, dass die SEIU auf politischer Ebene Lobbyarbeit für die Gesundheitsunternehmen betreibt, eine Auswahl der ‚organisierbaren‘ Betriebe seitens der Unternehmen ebenso wie die Betriebe, die davon ausgenommen werden (Moberg 2008). Diese Abkommen gelten als ‚Sweetheart Deals‘, die von der Bundeszentrale oftmals über die Köpfe der betroffenen Mitglieder, der locals und ihrer Tarifkommissionen hinweg ‚hinter verschlossenen Türen‘ ausgehandelt wurden.

Hae-Lin Choi/Catharina Schmalstieg; „Licht und Schatten“, in Juri Hälker (Hrsg.)„Organizing. Neue Wege gewerkschaftlicher Organisation“, VSG-Verlag, 2008, S. 62

Weder die zahlreich durchgeführten Organizing-Kampagnen noch die Zahl von hunderttausenden neugewonnen Mitgliedern konnten bei einer von der Gewerkschaftsbürokratie beherrschten und sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaft wie bei der SEIU eine Zurückdrängung und eine Veränderung der politischen und strukturellen Koordinaten erreichen. Im Gegenteil, die Gewerkschaftsbonzen konnten sich über die Krise der Gewerkschaftsbewegung hinweg retten und ihre Autorität sowie ihren Einfluss in der Organisation mit Hilfe der Erfolge durch Organizing-Kkampagnen und Wachstum der Mitgliederzahlen noch weiter steigern!

Wie konnten die Gewerkschaftsbonzen dies erreichen?

Die Gewerkschaftsbonzen der SEIU konnten dies erreichen, da es ihnen gelang, die wahren Ursachen und Zusammenhänge der Krise der Gewerkschaftsbewegung zu verschleiern und diese im Wesentlichen auf bestimmte Mängel und Fehler bei der Gewinnung und der Mobilisierung von (neuen) Mitgliedern zu beschränken. Nicht die Politik der Unterordnung unter die Interessen des Kapitals und die Politik der sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Kapitalbesitzern und Konzernen und weitgehender Verzicht auf Arbeitskampfmaßnahmen waren die Gründe, die das Vertrauen der arbeitenden Klasse in ihre gewerkschaftlichen Organisationen erodieren ließ, sondern das Fehlen bzw. die Mängel von richtigen Methoden, Techniken und Konzepten wurden als angebliche Gründe angegeben! Die Einführung und die Durchführung aller Organizing-Mmaßnahmen und Organizing-Kkampagnen lief zudem unter direkter Kontrolle und Entscheidungsmacht derselben Gewerkschaftsbürokraten der SEIU. Daher konnten sie jeder Zeit jede für sie gefährliche Entwicklung unterbinden und abschaffen. Leider fehlte innerhalb der SEIU eine innergewerkschaftlich verankerte und relativ starke Opposition bzw. Fraktion, die in der Lage gewesen wäre, die tatsächlichen Ursachen der Krise aufzudecken und die dominierende sozialpartnerschaftliche Politik zurückzudrängen. So verkümmerten an sich effektive und sinnvolle Maßnahmen zur Mitgliedergewinnung und -mobilisierung, die in der Hand einer kämpferischen Gewerkschaft ein machtvoller Hebel zur Steigerung des Organisations- und Einflussgrades spielen können, zu isolierten und eingeschränkten Marketingkampagnen für die Attraktivität einer Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft.

Es gab bis heute kein Anzeichen dafür, dass solch eingeschränkte Maßnahmen und Projekte bei den US-amerikanischen Gewerkschaften zu einem tatsächlichen Politik- und Führungswechsel geführt haben. Im Gegenteil, weiterhin beherrschen die Gewerkschaftsbürokrat*innen die Geschicke der Gewerkschaftspolitik.

Organizing bei ver.di

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, ver.di, entstand durch die Vereinigung von ehemals fünf Einzelgewerkschaften am 19. März 2001. Diese Fusion wurde maßgeblich durch eine unaufhaltsame negative Entwicklung diktiert: massive Mitgliederverluste der Gewerkschaften und enorme Erodierung der Tarifmacht.

Die Grafik zeigt, dass die DGB-Gewerkschaften innerhalb von 10 Jahren von ca. 12 Millionen Mitgliedern ca. 4 Millionen verloren hatten, so dass statistisch der gewerkschaftliche Organisationsgrad von 33 % im Jahre 1991 auf 15 % im Jahre 2018 gesunken war. Die Gewerkschaftsbürokratie vermochte nicht, eine zufriedenstellende Antwort auf diese unaufhaltsame negative Tendenz zu geben, geschweige denn, dass sie Lösungsansätze entwickelte. Eine ähnliche Tendenz verzeichnete auch die Tarifbindung der Betriebe.

Die Tarifbindung erodierte so schnell, wie Schneeflocken in der Sonne schmelzen. Von ca. 76 % sank die Tarifbindung innerhalb von 10 Jahren auf unter 57%! Diese unübersehbaren Fakten offenbaren die Tatsache, dass auch in der sogenannten „Heimat der sozialen Marktwirtschaft“ die Arbeitgeberverbände nicht nur immer stärker die „soziale Partnerschaft“ in Frage stellten, sondern zur systematischen Bekämpfung von Gewerkschaften und Betriebsräten, zum Union Busting, übergegangen waren. Die Politik der Sozialpartnerschaft offenbarte ihre ganze Hilflosigkeit in Zeiten harter Konflikte mit Ausbeutern und ihren Organisationen. Der Verzicht auf die unbedingt notwendigen (Abwehr)Kämpfe, die sklaverische Unterwerfung unter das Diktat der Arbeitgeberverbände und der Regierungen (wie z.B. Hartz-IV-Gesetze) führte bei einem erheblichen Teil der Beschäftigten zu dem Ergebnis, dass diese das Vertrauen in ihre Gewerkschaften verloren. Die Suche nach den Ursachen ergab aus der Sicht der Führungen der Einzelgewerkschaften, dass mangelnde Organisationseinheit und mangelnde Konzepte bezüglich Mitgliedergewinnung und Mitgliedermobilisierung die Hauptursachen wären. Die Überwindung der ersten angeblichen Ursache wurde durch die Fusionierung von fünf Einzelgewerkschaften und durch die Gründung von ver.di im März 2001 erreicht. Bei der Gründung von ver.di konnte diese knapp 3.300.000 Mitglieder verzeichnen. Zur Einleitung eines Belebungsprozesses bezüglich einer starken Mitgliedergewinnung wurden Organizing-Konzepte aus den USA importiert. Die erste breitangelegte Organizing-Kkampagne bei ver.di war die LIDL-Kampagne gegen das deutsches Handelsimperium Schwarzgruppe im Jahre 2003/2004. Die LIDL-Kampagne wurde zu der Zeit von vielen gewerkschaftlichen Aktiven und einem Teil der Gewerkschaftssekretär*innen, die sehr engagiert und konfliktorientiert waren, mit Begeisterung aufgenommen und sehr begrüßt. Abgesehen von nur einigen wenigen Regionen, in denen die Gewinnung und Mobilisierung der LIDL-Beschäftigten ernst genommen und dementsprechend die Gründung von neuen Betriebsräten durchgesetzt werden konnten, drückte sich die erdrückende ganze Schwäche der Kampagne darin aus, dass sie vom Bundesvorstand hauptsächlich als Medienkampagne konzipiert und angelegt wurde. Nach und nach wurde die Kampagne ad acta gelegt und eingeschläfert. Trotz unzähliger und unterschiedlicher Organizing-Kampagnen konnte ver.di die enormen Mitgliederverluste bis dato nicht stoppen, sondern lediglich die Geschwindigkeit, das Tempo des Abwärtstrends, verlangsamen. Aktuell verfügt ver.di über ca. 1.950.000 Mitglieder. Das bedeutet, dass in der Zeit von 2001 bis 2022 1.300.000 Mitglieder verloren wurden.

Im Unterschied zu ver.di maß die IG-Metall, die auch aufgrund enormer Mitgliederverluste um den Verlust ihrer Tarifmacht fürchten musste, der Mitgliedergewinnung und den Organizing-Modellen eine größere Bedeutung bei. Sie baute in der Bundeszentrale eine besondere Organzing-Abteilung auf, engagierte viele Organizer und bildete in ihren Reihen neue Organizer aus. Um Missverständnissen bezüglich der konsequenten Fortsetzung der bisherigen sozialpartnerschaftlich orientierten Politik vorzubeugen, wurden parallel zu den geplanten Organizing-Kampagnen zwei bedeutende Gegenmaßnahmen ergriffen: Erstens die aggressive und erbarmungslose Bekämpfung von kämpferischen Mitgliedern und Oppositionsgruppen wie z.B. die Alternativen Listen in Berlin oder Stuttgart und zweitens, eine absolute Zurückhaltung bei Tarifforderungen und sowie der Durchführung von Arbeitskampfmaßnahmen. Diese Politik führt die IG-Metall-Führung weiterhin unbeirrt fort.
Auch diese Beispiele aus der langjährigen Praxis von Organizing-Kampagnen zeugen uns mehr als deutlich davon, dass selbst an sich gesehen effektive und gute Konzepte und Methoden wie das Organizing in den Händen der Arbeiteraristokratie und Gewerkschaftsbürokratie in der Regel als ein Mittel zur Stärkung der sozialpartnerschaftlichen Politik missbraucht und inhaltlich in entstellter Form ihre Anwendung in der betrieblichen Praxis finden kann.

Es gibt im bundesdeutschen Raum auch Gewerkschaften, die ohne Übernahme und Umsetzung von Organizing-Kkonzepten eine durchaus positive und erfolgreiche Mitgliedergewinnung und Mitgliedermobilisierung erreicht haben. Dazu zählt in erster Linie die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL). Das im Jahre 2015 in Kraft getretene reaktionäre „Tarifeinheitsgesetz“ half ungewollt der GDL, ihre Mitgliederstärke enorm zu steigern. Die GDL musste die sich selbst auferlegte Beschränkung ihres Organisationsbereiches auf das Zugpersonal aufgeben und öffnete sich für das gesamte direkte Eisenbahnpersonal. Damit vertritt die GDL nun neben dem Zugpersonal auch Eisenbahner*innen der Fahrzeug- und Fahrweginstandhaltung (Werkstatt und Bahnbau), der Netzinfrastruktur (Fahrdienstleiter, Signalwerkstätten, Bahnhöfe und Energieversorgung) sowie Teile der Eisenbahnverwaltung. Innerhalb kürzester Zeit konnte die GDL viele neue Mitglieder für sich verbuchen, weil sie im Tarifkampf vor allem gegenüber der Deutschen Bahn tatsächlich konfliktorientierter auftrat und aus der Sicht des Eisenbahnpersonals eine konsequente Interessensvertretung aufweisen konnte. Dies macht die GDL im Vergleich zu anderen Gewerkschaften qualitativ nicht besser und in keinster Weise zu einer klassenkämpferischen Gewerkschaft. Die GDL vertritt genauso wie die Führung von ver.di oder der IG Metall die reaktionäre Politik der Sozialpartnerschaft. Der Hinweis auf die GDL ist aus der Sicht zu sehen, dass eine stärkere Betonung der Konfliktorientierung und Streikorientierung ohne Wahrnehmung von Organizing-Kkampagnen durchaus möglich ist. Und dass man wichtige Unterschiede zwischen den Gewerkschaften, deren Führungen konsequent die Politik der Sozialpartnerschaft vertreten, nicht übersehen darf. Daher muss der Kampf gegen die reaktionären und sozialpartnerschaftlich orientierten Führungen der Gewerkschaften stets konkret geführt werden!

Fast in dem gleichen Zeitraum, in dem die Tarifverhandlungen und Streiks an den Berliner Kliniken liefen, führten Beschäftigten von GORILLAS leidenschaftlich und aufopferungsvoll Kämpfe und sogenannte „verbandsfreie“ Streiks gegen ihre menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Diese Streiks werden in weiten Teilen der Gewerkschaftsbürokratie und von bestimmtenr Arbeitsrechtler*innen als „rechtswidrig“ angesehen. Die Beschäftigten von GORILLAS begannen ihren Kampf zur sofortigen Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und zur Anerkennung ungehinderter Wahl von Betriebsräten und führten ihn über Monate hinaus ohne eine gewerkschaftliche Rückendeckung, ohne Begleitung von irgendeiner Organizing-Kampagne! Aus politischer und arbeitsrechtlicher Sicht spielte der Kampf der Beschäftigten von GORILLAS im Vergleich mit dem Tarifkampf der Beschäftigten in den Berliner Kliniken eine deutlich wirkungsvollere und zukunftsweisendere Rolle. Allein die heftige politische und juristische Auseinandersetzung, die durch die verbandsfreien Arbeitskampfmaßnahmen bei den GORILLAS entbrannten, verschob z.T. das bis dato herrschende Dogma, welches besagt, dass Streiks ohne gewerkschaftliche Rückendeckung „rechtswidrig“ seien. Selbstverständlich ist es unbedingt richtig und erforderlich, dass sich die kämpferischen Beschäftigten bei GORILLAS auch gewerkschaftlich organisieren und in enger Solidarität mit allen gewerkschaftlich organisierten Belegschaften ihren Kampf führen sollten. Trotzdem kommt die unbestreitbare Stärke der betrieblichen Kämpfe der Beschäftigten bei GORILLAS daher, dass sie nicht unter direkter Kontrolle und unter dem unmittelbaren Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie und ihrer lähmenden Ideologie der Sozialpartnerschaft standen.

Organizing fand weltweit auch in vielen Regionen der Welt innerhalb der Gewerkschaftsbewegungen eine große Beachtung, da der Abwärtstrend der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften durch die Globalisierung und die Deregulierung eine bedrohliche Entwicklung darstellt.
In vielen Ländern wurden ebenfalls Organizing-Methoden und -konzepte übernommen, weiterentwickelt und umgesetzt. Nicht selten konnten Gewerkschaften u. a. mit Hilfe von Organizing-Methoden und -kampagnen neue Betriebe erschließen und viele neue Mitglieder gewinnen. Interessant ist aber zu beobachten, dass besonders in einigen wenigen, ’nordischen Ländern‘, in denen Organizing-Kampagnen in gewerkschaftlicher Praxis kaum eine Rolle spielen, einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweisen.

Der durchschnittliche Anteil der Gewerkschaftsmitglieder in der Europäischen Union insgesamt, gewichtet nach den Arbeitnehmerzahlen in den einzelnen Mitgliedstaaten, beträgt 23 %. Dabei ist zu beachten, dass der relativ geringe gewerkschaftliche Organisationsgrad in einigen der größeren EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland (18 %), Frankreich (8 %) sowie Spanien mit 19 % und Polen mit 12 % diesen Durchschnitt drückt. Die drei kleinsten Staaten hingegen – Zypern, Luxemburg und Malta – verzeichnen hier Anteile, die weit über dem Durchschnitt liegen. Wie bereits erwähnt stehen die drei nordischen Länder Dänemark, Schweden und Finnland mit rund 70 % gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern an der Spitze. Ebenso wie in Belgien – das ebenfalls einen überdurchschnittlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweist

http://de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehun-gen/Quer-durch-Europa/Gewerkschaften

Woran liegt das Geheimnis dieses hohen Organisationsgrades der „nordischen Länder“ im Vergleich mit anderen europäischen Ländern?

[Es] liegt dies zum Teil daran, dass das Arbeitslosengeld und andere soziale Leistungen in der Regel von den Gewerkschaften ausgezahlt werden. In Schweden haben sich Änderungen bei der Regelung der Arbeitslosenunterstützung zwischen 2006 und 2008 negativ auf die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ausgewirkt. Aber in den nordischen Ländern ist der hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad auch dadurch zu erklären, dass die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft für erwerbstätige Arbeitnehmer eine Selbstverständlichkeit ist. So verzeichnet Norwegen, wo das Arbeitslosengeld nicht von den Gewerkschaften ausgezahlt wird, mit rund 52 % einen relativ hohen Anteil gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer.

http://de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehun-gen/Quer-durch-Europa/Gewerkschaften

Dass die Gewerkschaften der nordischen Länder sowie die Gewerkschaften in Belgien staatliche Hoheitsaufgaben übernehmen, bedeutet, dass sie faktisch mit dem staatlichen System viel stärker als in anderen Ländern mit sozialpartnerschaftlicher Tradition verwachsen sind. Sie handeln als ein Teil des herrschenden politischen Systems, so dass weder Regierungen noch Arbeitgeberverbände die Gewerkschaften der nordischen Länder als Gegner ansehen brauchen. Gewerkschaften gelten in den Augen der herrschenden Klassen in diesen Ländern selbstverständliches auch als ein notwendiges Zubehör des politischen Systems, wie öffentliche Kliniken oder das Jugendamt. Diese „perfektionierte Form der Sozialpartnerschaft“ ist das Geheimnis für den hohen Organisationsgrades der Gewerkschaften in diesen Ländern. In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzustellen, dass die Massenmobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften in einigen Ländern besonders hoch ist, obwohl der gewerkschaftliche Organisierungsgrad deutlich niedriger ist, als im europäischen Vergleich, wie z.B. in Frankreich. In Frankreich liegt der gewerkschaftlicher Organisierungsgrad bei ca. 8-9%. In Frankreich ist die Übernahme von Organizing-kampagnen in die gewerkschaftliche Arbeit eher eine Seltenheit. Trotzdem gelingt es den Gewerkschaften, große Protestaktionen und landesweite Generalstreiks gegen die Vorhaben der Regierung zu mobilisieren. Auch die Streikhäufigkeit liegt deutlich höher als in Deutschland oder in den nordischen Ländern, in denen für die Gewerkschaften stets die Politik der Streikvermeidung gilt.

Frankreich ist auch ein wichtiger Beleg dafür, dass die Klassenkampfkultur und die ungebrochene Klassenkampftradition der Arbeiterinnen in einem Land, trotz eines sehr geringen gewerkschaftlichen Organisierungsgrades und des Fehlens von breit angelegten Organisierungskampagnen, die Konflikt- und Kampffähigkeit der werktätigen Klasse vorantreiben. Diese positiven Eigenschaften der Arbeiterinnenklasse in Frankreich sind auch die Potentiale, mit deren Hilfe die Belegschaften und Gewerkschaftsmitglieder häufig die Hindernisse, die von vielen sozialpartnerschaftlich geführten französischen Gewerkschaftsführungen in den Weg gestellt werden, überwinden können. Frankreich ist auch ein Beleg dafür, wie wichtig es ist, auch in der BRD eine Kultur des Klassenkampfes innerhalb der Arbeiterinnenklasse und der Gewerkschaften aufzubauen und zu verankern. Aufgrund ungebrochener Herrschaft der Arbeiterinnen-Aaristokratie und der Gewerkschaftsbürokratie sowie der Dominanz der Sozialpartnerschaftsideologie, die das gesamte deutsche Gewerkschaftsleben inhaltlich bestimmt, ist erste und wichtigste Voraussetzung eines durchsetzungsfähigen und erfolgreichen betrieblichen Klassenkampfes ein tiefes Misstrauen in die Gewerkschaftsbürokratie und ihre politischen Leitlinien!

Für Genosse Omar gilt diese Maxime nicht. „Die entscheidenden Parameter für einen erfolgreichen Streik könnte man“ – so der Genosse Boris- „bei der Berliner Krankenhausbewegung auf drei Parameter reduzieren. 1. Orgagrad – also Stärke im Betrieb und Streikmacht, 2. Durchhaltevermögen und Stärkeentwicklung im Verlauf eines Streiks (inwiefern ist es überhaupt möglich eine konstant hohe Streikbeteiligung aufrecht zu erhalten?) und 3. zivilgesellschaftlicher und politischer Druck.“ Unter seinen „Parametern“ würde man vergeblich den „Parameter“ suchen, der eine klare und kämpferische Haltung gegenüber der Politik der Gewerkschaftsbürokratie, gegen das lähmende ideologische Gift der Sozialpartnerschaft verlangt. Das ist genau einer der wichtigsten Gründe, warum die Gewerkschaftsbürokratie manche „linke“ Gewerkschaftsaktive und Organizer*innen in den gewerkschaftlichen Strukturen auch in einem kontrollierbaren und eingeschränkten Rahmen duldet, eben solange diese „Linken“ ihre Herrschaft im Betrieb in der Gewerkschaft nicht infrage stellten. Die Frage ist aber, ob gewerkschaftliches Organizing tatsächlich den „klassenkämpferischen“ Ansprüchen entsprechen kann, wenn eine klare Haltung gegenüber der Gewerkschaftsbürokratie fehlt!

Genosse Omar geht bei der Unterschätzung der Rolle der Gewerkschaftsbürokratie noch einen Schritt weiter und stellt folgende Behauptung auf: „ Es ist eben nicht die Gewerkschaftsführung gewesen, die die zentralen Entscheidungen getroffen haben, sondern, es waren, die von den über 400 Teams gewählten Teamdelegierten (bei den Müttern und den Töchtern).“

Diese Behauptung entspricht in keiner Weise der Realität. Tatsache ist, dass auch bei der Berliner Krankenhausbewegung die grundsätzlichen Ziele und die Strategie von oben vorgegeben werden. In den unteren betrieblich-gewerkschaftlichen Organen/Gremien werden Selbstständigkeit und Entscheidungen nur solange erlaubt und geduldet, solange diese nicht gegen die Erwartungen und Vorgaben der Gewerkschaftsführungen (oder Fachbereichsführungen) gerichtet sind. Bei einer zutiefst undemokratischen Entscheidungsmacht von oben, nämlich dass nur der Bundesvorstand von ver.di über die Durchführung und Fortsetzung von Streiks Entscheidungen treffen darf, selbst wenn 100% der Belegschaft oder Gewerkschaftsmitglieder für einen Streik oder eine Fortsetzung des Streiks votieren würden. Auch bei Abstimmung über die Annahme des Eckpunktepapiers stand – bewusst – als Alternative nicht die Fortsetzung der Arbeitskampfmaßnahmen! Wehe, wenn Teamdelegierte es wagen würden, eine gegen die Erwartungen der ver.di-Führung gerichtete Entscheidung zu treffen. Dann würden sowohl im Betrieb als auch in gewerkschaftlichen Strukturen alle möglichen Bashing-Methoden gegen die betreffenden Teamdelegierten organisiert werden.

Da der Genosse Omar die gezielte Bekämpfung der Herrschaft der Gewerkschaftsbürokratie, vor allem in den betrieblichen Konflikten nicht als eine unbedingt notwendige und wichtige Aufgabe ansieht, kritisiert er unseren Artikel, „Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern“, in dem genau diese Anforderung ernst genommen und der Entlarvung der Gewerkschaftsbürokratie und ihrer sozialpartnerschaftlich orientierten Ideologie bewusst ein großer Raum gegeben wird, und stellt unsere Auffassung als „Gewerkschaftsbürokratie-Bashing“ dar.

„Ich glaube“ – sagt der Genosse Omar – „es wäre viel zielführender sich kritisch und konstruktiv aus klassenkämpferischer,“ (hört! Hört!) „gesellschaftstransformatorischer Perspektive genau mit den jüngeren gewerkschaftspolitischen Entwicklungen zu beschäftigen, anstatt altgedientes Gewerkschaftsbürokratie-Bashing zu betreiben.“

Nur politisch Blinde können die große Gefahr, die der Herrschaft der Arbeiter*innen-Aristokratie und Gewerkschaftsbürokratie entspringt, in solch massiver Form unterschätzen. Die unbedingt notwendige und brennende Aufgabe, die Machenschaften der Gewerkschaftsbürokratie systematisch zu entlarven, können nur diejenigen als einen Akt des „Gewerkschaftsbürokratie-Bashing“ ansehen, die vor den großen Herausforderungen für kämpferische Beschäftigte in Bezug auf die Gewerkschaftsbürokratie die Augen schließen.

Verabsolutierung einer theoretischen Analyse

Für eine sozialistische Bewegung ist eine revolutionäre und fundierte Theorie ein unverzichtbares und unbedingtes Mittel zur Bekämpfung der Herrschaft des Kapitals und zur Gewinnung breiter Massen der werktätigen Klasse. Das marxistische Prinzip, dass es „ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis“ geben kann, gilt heute genauso wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Theorie, eine theoretische Analyse, kann aber nur dann eine revolutionäre Funktion erfüllen, wenn sie den Anforderungen des Klassenkampfes dient, wenn sie zur Klärung dringender Fragen des praktischen Kampfes beiträgt. Damit die revolutionäre Theorie zu einer materiellen Kraft wird und als ein Hebel der Stärkung des praktischen (sagen wir im engeren Sinne „ökonomisch-gewerkschaftlichen“) Kampfes dient, ist die Verbreitung der Ergebnisse der revolutionären Theorie, das Hineintragen des wissenschaftlichen Sozialismus notwendig. Zur Verbreitung der Ergebnisse einer kämpferischen Analyse, einer revolutionären Theorie gibt es zwei unterschiedliche Hauptmethoden:

  • A) Die Methode der Propaganda oder besser gesagt Aufklärung
  • B) Die Methode der Agitation.

Da der Faschismus die Terminologie Propaganda so missbraucht und die Pervertierung der Methode der Propaganda auf die Spitze getrieben hat, ist erforderlich, auf den Begriff „Propaganda“ eventuell zu verzichten und stattdessen z.B. den Begriff „Aufklärung“ zu benutzen.

Die Aufklärung (Propaganda) bedeutet Vermittlung vieler Kenntnisse für wenige und die Agitation bedeutet Vermittlung eines Gedankens für viele. Aufgrund unterschiedlicher Zielgruppen und Funktionen unterscheiden sich revolutionäre Aufklärung und revolutionäre Agitation auch in der Form erheblich. Die revolutionäre Agitation muss dem politischen Niveau, den praktischen Herausforderungen einer großenr Anzahl von Arbeiter*innen entsprechen bzw., mit denen vieler Beschäftigtern konfrontiert sind.
Genau aus diesen unbedingt erforderlichen Erwägungen heraus entschieden wir uns bei unserem Text „ Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern“ für die Form einer Agitationsschrift. Unser Ziel war, mit populärer, einfach verständlicher Sprache viele Beschäftigten der Berliner Kliniken zu erreichen, sie dazu zu bewegen, das von sozialpartnerschaftlicher Erwägung diktierte „Eckpunktepapier“ abzulehnen und für die Fortsetzung des Streiks zu stimmen, bis die Hauptforderungen der Belegschaften (wie z.B. Rückführung in die Mutter und in den TVöD) erfüllt sind. Genosse Omar findet es grundsätzlich falsch, Schlussfolgerungen zu ziehen und irgendwelche Empfehlungen in die Belegschaft auszusprechen, ohne gleichzeitig eine (theoretische) Analyse u.a. über folgende Fragen geliefert zu haben:

Er sei nach einer gründlichen Einschätzung unseres Textes zum Schluss gekommen, „dass der analytische Mehrwert des Artikels für eine klassenkämpferische Perspektive im deutschen Gesundheitswesen nur sehr gering ausfällt.“ Weiter: „Die eigentlich spannende Frage ist, wer kann wann und warum klassenkämpferisch sein und wie und wann kann klassenkämpferischer Gewerkschaftsaktivismus erfolgreich sein und sich gegenüber den allmächtigen Kapitalinteressen durchsetzen.“ Die Beschäftigten der Berliner Kliniken – behauptet Genosse Omar – haben sich „an Organizing- Prinzipien orientiert, diese werden von euch auch nicht erwähnt. Auch die Rolle des externen Dienstleisters Organizi.ng, der zusammen mit den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten das Kampagnendesign entwickelt hat, wird von euch nicht erwähnt.“

„Die Fragen, denen ihr euch nicht stellt, sind: „wie stark sind die Beschäftigten?, was heißt Stärke?, wie können die Beschäftigten effektiv Stärke aufbauen? und wie viel Stärke ist notwendig, um die Forderungen durchzusetzen, ohne Kompromisse eingehen zu müssen?“ Und „die eigentlich spannende Frage ist, wie man das systemkritische Bewusstsein bei den Beschäftigten dauerhaft vertiefen kann. Dafür habe ich keine Antwort.“

Unser Artikel konzentrierte sich sehr genau auf die Antwort auf diese „spannende Frage“, nämlich wie die Beschäftigten ihr Klassenbewusstsein bei diesem konkreten tariflichen Konflikt entwickeln können. In dem Artikel wird anhand von vielen konkreten Argumenten eine klare Antwort gegeben: Beugt euch dem Diktat der Gewerkschaftsbürokrateninnen nicht! Findet euch nicht mit einem Minimalkompromiss ab! Ihr habt die Möglichkeit, eure Hauptforderungen in einem gemeinsamen Kampf durchzusetzen! Stimmt für die Fortsetzung des Streiks! „Erfolg“, den die Beschäftigten in einem harten Kampf erreicht haben, ist eines der effektivsten Mittel, mit dessen Hilfe das Klassenbewusstsein vieler Beschäftigten „dauerhaft“ und radikal entwickelt, verankert und vertieft werden kann. In einem harten und qualvollen Kampf erfahren viele Arbeiterinnen, wie wichtig der Klassenzusammenhalt und die Solidarität oder wie wichtig konsequente und durchsetzungsfähige Kampfführung sind. „Dauerhaftes“ klassenkämpferisches Bewusstsein kristallisiert sich in den Köpfen vieler Arbeiterinnen erst dann, wenn sie die Kapitalvertreterinnen in einem harten Kampf nicht als „Sozialpartnerinnen“ sondern als „Sozialfeinde“ genau begreifen und wenn sich diese Erfahrung tief verinnerlicht. Diese „einfachen“ und jedoch unverzichtbaren Leitsätze des Klassenbewusstsein müssen Revolutionärinnen in jedem Streikkampf und in jeder betrieblicher Auseinandersetzung u.a. in Form von Aufklärung und Agitation in der Belegschaft verbreitern und verankern. Diese Ziele können aber nur dann erreicht werden, wenn die herrschende Ideologie der Sozialpartnerschaft, die von der sozialpartnerschaftlichen Zielsetzung bestimmte Tarif- und Streikstrategie der Gewerkschaftsbürokratie entlarvt und zurückgedrängt werden kann. Dazu empfehlen wir Genossinnen und Genossen, sich den Text „Der Kampf an den Berliner Kliniken“ erneut anzuschauen und zu überprüfen, ob die Fragen, die wir in dem Text priorisiert haben oder die Fragen, die der Genosse Omar als „analytische Grundvoraussetzung“ ansieht, von dringender Bedeutung sind.

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Was tun mit den Gewerkschaften in der BRD?

Was tun mit den Gewerkschaften in der BRD?

von Omar Orgagrad, März 2022

Im Folgenden werde ich auf den Text von Kemal mit dem Titel Illusionen oder Realitäten – Welche soziale Gruppe beherrscht die Gewerkschaften in der BRD? antworten. Es handelt sich um eine Replik auf einen Kommentar von mir, den ich am 16. November 2021 im re:volt-Magazin auf den Artikel mit dem Titel Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern geschrieben habe. Ich war überrascht über die sehr ausführliche Antwort des Genossen Kemal und nehme diese wertschätzend zur Kenntnis. Meine Motivation mich weiter der spannenden Debatte um linke Gewerkschaftspolitik hinzugeben und ebenfalls ausführlich zu antworten, ist vielseitig begründet:

a.) Zum einen will ich bestimmte Behauptungen, die mir inkohärent erscheinen, in dem Text von Genosse Kemal richtigzustellen.

b.) In bestimmten Punkten, in denen ich meines Erachtens nicht richtig verstanden wurde, werde ich mich besser erklären und pointierter Stellung beziehen.

c.) Einige Argumentationslinien, die in beiden Texten aufgezeichnet werden, will ich zusammenführen.

d.) Zum anderen fühle ich mich den Genoss*innen von Hände Weg vom Wedding politisch verbunden und hoffe deswegen auf einen konstruktiven politischen Austausch, der durch langjährige Erfahrung politischer Arbeit auf beiden Seiten bestimmt ist.

Von der Theorie in die Praxis – Übersetzungsschwierigkeiten von sozialistischer Theorie in die aktuelle Debatte um sozialistischen Gewerkschafts-Aktivismus am Beispiel der Berliner Krankenhausbewegung

Ausgangspunkt des Schlagabtauschs für die Debatte um linken bzw. sozialistischen Gewerkschaftsaktivismus ist die unterschiedliche Beurteilung des Erfolgs bzw. des Misserfolgs der Beschäftigten der beiden kommunalen Berliner Krankenhäuser Charité und Vivantes in ihrem Kampf um verbindliche Personalbemessungsregelungen (Tarifvertrag Entlastung) und Lohnangleichung bei den Töchterbeschäftigten (TVöD für alle). Neben den unterschiedlichen Einschätzungen zum Erfolg und Misserfolg der Berliner Krankenhausbewegung werden von Genosse Kemal und mir ebenfalls unterschiedliche Einschätzungen bzw. noch nicht miteinander vermittelte Einschätzungen zu der Frage, was eigentlich klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik bedeuten soll und welche Rolle Gewerkschaften dabei spielen, diskutiert. Nachdem ich zu der Antwort auf den ersten Artikel im re:volt-Magazin zu dem Schluss gekommen bin, dass der analytische Mehrwert des Artikels gering ausfällt, komme ich im Hinblick auf den 17-seitigen Text von Genosse Kemal zu dem Schluss, dass dieser eine Reihe spannender Hypothesen aufwirft, die jedoch an vielen Punkten nicht konsequent zu Ende gedacht werden. Der Text von Genosse Kemal ist in drei Teile gegliedert:

  1. Ein theoretischer Teil, in dem unter dem Bezug auf Marx, Engels und Lenin die Begriffe wie Klassenkampf im Ansatz erläutert werden und Positionen und Strategien im Hinblick auf den Umgang mit Gewerkschaften hergeleitet bzw. vorgeschlagen werden.
  2. Ein analytischer Teil, in dem unter der Berücksichtigung der Positionen von Marx, Engels und Lenin versucht wird, den Misserfolg der Berliner Krankenhaus zu begründen.
  3. Ein letzter Teil, in dem versucht wird, die Irrelevanz von Organizing-Prinzipien zu belegen als einen Versuch, die Sozialpartnerschaft zu verschleiern.

Begrüßenswert finde ich den Versuch, anhand von sozialistischen Klassikern, zu erklären, was eigentlich „Klasse“, „Klassenkampf“ und „klassenkämpferisch“ bedeutet. Ausgangspunkt der Argumentation von Genosse Kemal ist die Feststellung, dass es keine homogenen Klassen gibt, sondern Teile der von Marx und Engels als Bourgeosie und Proletariat identifizierten Klassen unterschiedliche, sogar konträre Interessen vertreten können. Anders könnte man es sich richtigerweise sonst nicht erklären, warum der Großteil der Arbeiter*innenklasse in kapitalistisch weit entwickelten Nationen wie der BRD momentan nicht beabsichtigt, den Kapitalismus abzuschaffen. Genosse Kemal zufolge schaffen es die „rohstoffverarbeitenden und exportorientierten Kapitalfraktionen“ der „imperialistische[n] Großmacht BRD“, Arbeiter*innen „durch materielle Sonderleistungen“ temporär auf ihre Seite zu ziehen und gegen ihr eigenes Interesse handeln zu lassen. Eben diese Arbeiter*innen werden dann laut Genosse Kemal zu „Agenten der Bourgeoisie“ und es bilde sich eine sogenannte „Arbeiter*innenaristokratie“ heraus, die sich an die Spitze dieser Agent*innenschaft setzt, wie beispielsweise die „Gewerkschaftsbonzen“, also die Führungspersonen großer Gewerkschaften. Ich teile die Auffassung, dass es Klassen gibt, dass es im Kapitalismus zwei Hauptklassen gibt, die sich durch den Besitz bzw. den Nicht-Besitz von Produktionsmitteln auszeichnen und deren Interessen sich nur gewaltsam unter katastrophalen Folgen miteinander vereinen lassen: extreme, stetig wachsende ökonomische und soziale Ungleichheit, Klimakrise, Patriarchat etc. Ich bin jedoch der Auffassung, dass Genosse Kemals Schlussfolgerung nur tendenziell richtig, jedoch zu kurz gedacht ist. Es ist offensichtlich, dass es unterschiedlich privilegierte Teile einer heterogenen Arbeiter*innenklasse gibt, die mit verschiedenen Formen von „Sonderleistungen“ abgespeist werden, jedoch vollzieht sich dieser Prozess nicht nur innerhalb „imperialistischer Großmächte“ wie der BRD, sondern so ziemlich in jedem Land der Erde, welches in die globalisierte kapitalistische Weltwirtschaft integriert wird (mit wenigen Ausnahmen). Deswegen ist es so schwer, dass sich, egal wo auf der Welt, eine nennenswerte Bewegung in Form von einer klassenbewussten Arbeiter*innenschaft herausbildet, die den Kapitalismus herausfordern könnte. Theoretiker*innen wie Paul Mason bspw. gehen sogar soweit und zweifeln an, dass die Arbeiter*innenklasse überhaupt derjenige Akteur sein wird, der den Kapitalismus überwinden wird. Mit Lenin argumentierend, geht Hände weg vom Wedding wahrscheinlich davon aus, dass ihr die Avantgarde seid, die der Arbeiter*innenklasse das revolutionäre Bewusstsein bringt, um sie aus ihrer Agent*innenschaft gegenüber der Bourgeoisie zu befreien, was ich befürworten würde. Ich bin der Auffassung, dass dies mit einem ausgefeilten Plan und einem theoretischen Fundament gelingen muss, welches jedoch mehr beinhalten muss, als die Referenz auf eine Handvoll Zitate von Marx, Engels und Lenin, die mangelhaft strategisch operationalisiert werden. Die eigentlich spannende Frage müsste lauten: Wann und wie befreien sich die Lohnabhängigen in der BRD aus ihrer Agent*innenschaft und welche Rolle spielen die Gewerkschaften dabei? Genosse Kemal liefert am Ende seines Texts eine spannende Antwort: „`Dauerhaftes´ klassenkämpferisches Bewusstsein kristallisiert sich in den Köpfen vieler Arbeiter*innen erst dann, wenn sie die Kapitalvertreter*innen in einem harten Kampf nicht als „Sozialpartner*innen“ sondern als „Sozialfeinde“ genau begreifen und wenn sich diese Erfahrung tief verinnerlicht.“

Soweit so gut. Ich würde erst einmal überlegen, wenn ich mit Beschäftigten spreche, ob ich das martialische Begriffspaar Freund-Feind gegenüber Arbeiter*innen verwenden würde, die ich für meine Sache gewinnen will. Der springende Punkt liegt meiner Auffassung nach nicht nur in der Unterscheidung zwischen „Freund und Feind“ bzw. der bloßen Anerkennung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit. Die meisten bzw. viele Beschäftigte, die keine dezidierten Sozialist*innen sind, sehen ihre Arbeitgeber*innen nicht als Partner*innen an, sondern als Kontrahent*innen, so auch die Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser, egal ob sie als Mitglieder einer sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaft in die Auseinandersetzung gehen oder nicht-

Das Ziel, und da stimme ich wiederum mit Genosse Kemal überein, einer jeden Sozialistin und eines jeden Sozialisten oder einer Gewerkschaft die klassenkämpferisch ist, sollte sein, egal wen dazu zu bringen, die „Hebel zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems“ also des herrschenden kapitalistischen Systems, zu identifizieren und zwar innerhalb eines politisch organisierten Rahmens, z.B. in einer sozialistischen Stadtteilorganisation namens Hände Weg vom Wedding. Ich glaube, da sind wir uns wahrscheinlich einig.
Kontrovers ist anscheinend eher die Einschätzung, ob eine sozialpartnerschaftliche Gewerkschaft wie ver.di Räume dafür bieten kann, um die Suchbewegung nach gangbaren Alternativen zum Kapitalismus zu unterstützen. Um eine Sache vorab klarzustellen, natürlich teile ich eure Auffassung, dass die Sozialpartnerschaft vorgibt, den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zu lösen, bzw. zu moderieren und ich teile eure Auffassung, dass das ein grundlegendes Problem von Gewerkschaftspolitik ist! Ich hätte diesen Aspekt in meiner ersten Antwort auf euren Artikel einbinden sollen. Das Dilemma, in dem ihr meiner Meinung steckt, ist, dass ihr nicht wisst, wie ihr strategisch mit Gewerkschaften wie ver.di umgehen sollt und eure eigene Argumentation an vielen Stellen inkohärent ist. Aus diesem Dilemma erwachsen eine Reihe von strategischen Fehleinschätzungen und nicht zielführenden Verallgemeinerungen.

Mein Ziel ist es, in Anbetracht der extrem eingeschränkten Möglichkeiten von sozialistischen Kleingruppen, Arbeitskämpfe zu unterstützen, oder diese gar zu gewinnen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie man die Ressourcen eines großen Gewerkschaftsapparats nutzen könnte, um klassenkämpferische Politik zu betreiben. Mit diesem Anliegen bin ich nicht allein, ich weiß, dass andere Organizer*innen eine ähnlich „listenreiche“ Agenda verfolgen (dazu später mehr). Ich frage euch offensiv in meinem ersten Text, ob man sozialpartnerschaftliche Gewerkschaften wie ver.di ganz abschreiben sollte (das habe ich aus eurem ersten Text geschlussfolgert – dort stand nämlich noch nichts von Lenins Forderung die großen Gewerkschaften in keinem Fall zu vernachlässigen oder gar abzuschreiben). Eure einzige Argumentationslinie folgt einer einfachen Antwort: Wenn man stets auf die „schändliche Rolle“ der Gewerkschaftsbürokratie hinweist, dann könne man mit Gewerkschaften wie ver.di zusammenarbeiten. Wie diese Zusammenarbeit dann ganz konkret
aussehen könnte, bleibt leider völlig offen!

Ich glaube, Genosse Lenin und Genosse Marx wären enttäuscht von dieser Oberflächlichkeit . Es ist immer einfach, seine revolutionären Schablonen von außen auf die Realität zu stülpen, aber die Praxis, ist leider etwas komplexer. Vor allem, wenn man sich als Stadtteilorganisation bis auf einzelne Solidaritätsbekundungen nicht an der Auseinandersetzung in den Berliner Krankenhäusern beteiligt hat.

Das einseitig verkürzte Narrativ von Organizing-Methoden – Von der Methoden- zur Strategiefrage

Meine persönliche Rolle in der Auseinandersetzung ist nicht unvoreingenommen. Ich stand so wie circa dreißig andere Organizer*innen in einem über „Organizi.ng“ vermittelten Lohnarbeitsverhältnis mit ver.di. Alle Organizer*innen haben in der Regel ein ambivalentes Verhältnis zu den hauptamtlichen Gewerkschaftssekräter*innen. Das liegt zum einen an der unterschiedlichen Entlohnung trotz hoher Arbeitsbelastung auf beiden Seiten, aber auch an der institutionellen Logik des sozialpartnerschaftlich verfassten Gewerkschaftsapparats. Denn hauptamtliche Gewerkschaftssekräter*innen fühlen sich oftmals von der allgemeinen Stoßrichtung von Organizing-Methoden bedroht. Bevor ich hier in die Tiefe gehe, möchte ich zunächst auf eure Darstellung von der Entstehung und dann zur Einschätzung der Wirkmächtigkeit von Organizing-Methoden eingehen.

Eurer Interpretation von der Implementierung von Organizing-Prinzipien in die Praxis der großen Gewerkschaften in den USA und Deutschland folgt einem einseitigen Narrativ. Der Beginn der von Genosse Kemal bedienten Erzählung liegt in dem offensichtlichen Einflussverlust von Gewerkschaften ab den 70er Jahren. Die Aufkündigung sozialpartnerschaftlicher Gewissheiten durch neoliberale Wirtschaftsreformen in den 80er, 90er und 00er Jahren führten zu einem massiven Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades gemessen an der Gesamtbevölkerung in allen westlichen Industrienationen. Die von Genosse Kemal beigefügten Zahlen sprechen für sich selbst und sind allgemein bekannt. An dieser Stelle wäre es spannend, auf die genauen gesellschaftspolitischen Mechanismen zu blicken, die diese Entwicklung bedingen (also wie sich Produktivkräfte im globalen Wettbewerb entwickelt haben und wie die Kapitalseite diese Entwicklungen für sich nutzen konnte). Für Genosse Kemal steht der alleinige Schuldige für diesen Rückgang vorschnell fest. Es ist die „schändliche“ Ideologie der Sozialpartnerschaft, die allein für die traurige Erosion der Kampfkraft der Arbeiter*innenklasse verantwortlich ist.

Jetzt könnte man sich natürlich fragen, was die revolutionäre Linke in der Zwischenzeit gemacht bzw. nicht gemacht hat, um diese Entwicklung aufzuhalten, aber es ist bekanntlich einfacher die Schuld bei anderen zu suchen, als bei sich selbst anzufangen. Ich glaube man sollte sich öfter an die eigene Nase fassen, bevor man sich selbst mit dem erhobenen marxistisch-leninistischen Zeigefinger versucht, aus der Affäre zu ziehen. Denn es liegt ja nach Lenin in unserer Verantwortung die Gewerkschaften aus den fiesen Griffen der „Gewerkschaftsbonzen“ zu befreien, genau das hätte Lenin sicher gefordert, um Gewerkschaften endlich wieder zu effektiven „Sammelpunkte[n] des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals“ zu machen. Wir sind also wieder beim Ausgangsproblem: Was tun mit den Gewerkschaften? Und nein, es zählt nicht, einfach immer und immer wieder gebetsmühlenartig marxistische Phrasen zu wiederholen:
„Aufgrund ungebrochener Herrschaft der Arbeiter*innenaristokratie und der Gewerkschaftsbürokratie sowie der Dominanz der Sozialpartnerschaftsideologie, die das gesamte deutsche Gewerkschaftsleben inhaltlich bestimmt, ist erste und wichtigste Voraussetzung eines durchsetzungsfähigen und erfolgreichen betrieblichen Klassenkampfes ein tiefes Misstrauen in die Gewerkschaftsbürokratie und ihre politischen Leitlinien!“ „Tiefes Misstrauen“ und das Bekämpfen der „ungebrochenen Dominanz der Arbeiter*innenaristokratie“ sind schön und gut, aber was heißt das konkret in der Praxis? Genau diese Frage beantwortet Genosse Kemal mangelhaft. Mich interessieren eher konkrete, praktische Vorschläge, anstelle von verkürzten Handlungsaufforderungen.

Zurück zum einseitigen Narrativ der Organizing-Methoden. Diese stellen Kemal zufolge nur eine verzweifelte Antwort der „Gewerkschaftsbonzen“ auf ihren eigenen Einflussverlust dar. Denn Gewerkschaften sind mitgliedergetragene Organisation. Weniger Mitglieder führen zu geringerem Einfluss. Um sich vor der drohenden Bedeutungslosigkeit zu retten, fangen die „Gewerkschaftsbonzen“ an, umzudenken und öffnen sich kontrolliert und vorsichtig Prinzipien, die für sie gefährlich werden könnten, wenn man sie konsequent und radikal zu Ende denkt: „mitgliederorientiert sein, beteiligungsorientiert sein und konfliktorientiert sein“.
Ich finde es ziemlich verwunderlich, dass Genosse Kemal diese Prinzipien damit abtut, dass die „Gewerkschaftsbonzen“ alle basisdemokratischen Bestrebungen in Gewerkschaften abwürgen würden, was sie sicherlich auch tun, das möchte ich in keiner Weise bestreiten, aber was bleibt einem anderes übrig als schlau und „listenreich“, die betriebliche Basis zu stärken und sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftsfunktionäre zu schwächen. Man sollte doch grade als Sozialist*in genau für diese Prinzipien in Gewerkschaften kämpfen, oder?

Beschäftigte sollten dazu ermutigt werden, ihre eigene Gewerkschaft nach klassenkämpferischen Prinzipien umzugestalten – basisdemokratisch und konfliktorientiert. Genau so bringt man am Ende „Gewerkschaftsbonzen“ am effektivsten in die Bredouille und sägt nach und nach an ihren Stühlen. Organizing-Prinzipien können meiner Auffassung nach genau das leisten. Wenn beispielsweise offene Verhandlungen gefordert werden, bei denen Beschäftigte durch ein Delegiertensystem direkt mit der Kapitalseite verhandeln, hat das eine ganz andere Wirkung als die immer noch dominante sozialpartnerschaftliche Hinterzimmer-Politik, die es abzuschaffen gilt. Mit offenen Verhandlungen meine ich hier, dass alle Beschäftigten sich an einer Tarifverhandlung beteiligen können und ihrem „Sozialfeind“ Auge in Auge gegenübersitze, wie es eine in einigen US amerikanischen Organizing-Kampagnen erfolgreich praktizierte Methode ist (siehe Jane McAleavy – keine halben Sachen).

Außerdem bieten Organizing-Methoden zumindest Möglichkeiten und überlegen sich, wie man passive, unpolitische Beschäftigte in eine aktive, selbstermächtigende Rolle manövriert. Hinzu kommt der unbedingte Fokus auf das Erringen von Mehrheiten in einer Belegschaft und ein kohärenter Durchsetzungsplan einer gewerkschaftlichen Kampagne. Elemente, die in anderen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen oftmals fehlen. Organizing-Methoden sind Bausteine, die, wenn sie richtig zusammengesetzt werden, bei der Durchsetzung einer klassenkämpferischen Strategie behilflich sein können, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen, so meine These. Die Frage, die sich hier stellt, ist: Wie kann man effektiv sozialpartnerschaftliche Grundprinzipien von großen Gewerkschaften aufkündigen und gleichzeitig unpolitisierte Beschäftigte dazu bringen, sich dauerhaft in klassenkämpferischen Massenorganisationen zusammenschließen, deren Ziel die Abschaffung des Kapitalismus ist? Es gibt idealtypisch nur drei Möglichkeiten:

  1. Man versucht die sozialpartnerschaftlichen Massengewerkschaften von innen heraus klassenkämpferisch zu gestalten und den Einfluss der „Gewerkschaftsbonzen“ zu brechen.
  2. Man ignoriert die großen sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaften und baut selbst Organisationen auf, die irgendwann zu Massenorganisationen werden, die politisch relevant und klassenkämpferisch sind.
  3. Man kombiniert die beiden ersten Optionen miteinander und macht beides gleichzeitig.

Egal für welche Option man sich entscheidet, die Strategie und eine ernsthafte Diskussion um Durchsetzungsmethoden sind elementar, da sich aus ihr auf der taktischen Ebene überhaupt erst ein glaubwürdiges Vorgehen zusammensetzt, das erfolgsversprechend sein kann. Ich sehe nicht genau, wo ihr euch verortet und bin gespannt auf euer Feedback an dieser Stelle.

Ebenfalls finde ich es erstaunlich, welche verkürzten, nicht zu Ende gedachten, argumentativen Fluchtbewegungen Genosse Kemal bemüht, um zu belegen, dass Organizing-Prinzipien, gar nicht notwendig seien, um klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik voranzutreiben, bzw. vordenken zu können. Zwei interessante Beispiele werden hier aufgeführt: Die GDL und ein Ländervergleich zwischen Frankreich, Deutschland und den skandinavischen Staaten. Ich möchte kurz auf die Beispiele von Genosse Kemal eingehen.

Die These, die bei der Kurzanalyse zum „Erfolg“ der GDL vertreten wird, ist dass es nicht darauf ankommt, ob Organizing-Methoden benutzt werden, um erfolgreich gewerkschaftliche Auseinandersetzungen zu führen, sondern auf den Grad der Konfliktorientierung. Die GDL ist bekanntlich ja auch eine sozialpartnerschaftliche Gewerkschaft, so wie es Genosse Kemal korrekt darstellt, in der die Mitglieder kaum eine öffentlichkeitswirksame Rolle spielen und alle Aufmerksamkeit auf den „großen“ Gewerkschaftsführer Klaus Weselsky konzentriert ist. Die GDL ist jedoch erfolgreich und erzielt vergleichsweise gute Abschlüsse für ihre Mitglieder (ob der Klassenkampf durch die GDL vorangetrieben wird, steht natürlich auf einem anderen Blatt.) Wovon hängt nun der Erfolg der GDL ab? Nur von dem Grad der Konfliktorientierung? Ich gehe mit der Argumentation von Genosse Kemal mit und sehe auch, dass das reaktionäre Tarifeinheitsgesetz, die GDL strukturell stärkt und begrüße genauso die Vehemenz bei der Konfliktführung, die natürlich bei den DGB-Gewerkschaften in den meisten Fällen fehlt. Einen wichtigen Aspekt lässt Genosse Kemal leider außer Acht. Aufgrund der besonderen Position der Lokführer*innen im Produktionsprozess, ist es ihnen leichter der Kapitalseite Zugeständnisse abzuringen. Lokführer*innen verfügen genauso wie Pilot*innen über eine sehr hohe strukturelle Macht, bedingt durch ihre Stellung im Produktionsprozess, die es ihnen erlaubt den Kapitalverwertungsprozess stark zu stören.

Krankenhausbeschäftigte verfügen hingegen über einen vergleichsweise sehr niedrige Produktionsmacht, da sie, aufgrund der immer zu gewährleistenden Notfallversorgung, nie voll streiken können (ein Umstand, der von Genosse Kemal leider nicht berücksichtigt wird). Hier ist der Machtressourcenansatz aus Jena von Klaus Dörre und Stefan Schmalz spannend. Für klassenkämpferische Politik ist es entscheidend, auf welches Pferd man setzt, wenn man den Kapitalismus auch nur ansatzweise aus den Fugen heben will. Dem Machtressourcenansatz folgend, ist es wichtig zu entscheiden, ob man seinen Fokus auf eine klassenkämpferische Auseinandersetzung bspw. im botanischen Garten setzten will, oder ob man sich entscheidet, der schwierigeren Aufgabe zu widmen, den Verwertungsprozess des Kapitals zu stören, da wo er auch weh tut. Ich möchte hier auf keinen Fall den Anschein erwecken, dass ich den wahrscheinlich vorbildlichen Kampf der Beschäftigten im botanischen Garten in irgendeiner Art und Weise diskreditieren möchte, aber die Positivbeispiele für klassenkämpferische Vorzeigekämpfe, die Genosse Kemal ins Feld führt, sind leider beliebig und hängen im luftleeren Raum, wenn sie nicht ordentlich kontextualisiert werden, denn:

a) Die Kämpfe wurden im botanischen Garten wie auch bei den Physiotherapeut*innen der CPPZ von ver.di, bzw. bei ver.di organisierten Beschäftigten geführt. Demnach ist es also sehr gut möglich, trotz der sozialpartnerschaftlichen Orientierung großer Gewerkschaften klassenkämpferische Kämpfe in diesen großen Organisationen zu führen. Ich weiß, dass Genosse Kemal hier nicht das Gegenteil behauptet, was mich jedoch stark verwundert, ist, dass der Kampf der CPPZ im Vergleich zur Berliner Krankenhausbewegung als klassenkämpferischer bewertet wird.

b) Die Kämpfe in kleineren Betriebseinheiten sind immer „leichter“ zu führen, als in großen Betrieben, Genosse Kemal behauptet das Gegenteil.

c) Ich habe viele Beschäftigte der ehemals CPPZ kennengelernt und leider nicht viel klassenkämpferisches Bewusstsein miterleben können, trotz erfolgreichem Kampf für eine 100 %ige Lohnangleichung, die nach Genosse Kemal automatisch zu unerschütterlichem Klassenbewusstsein führen solle.

d) der Streik der Kolleg*innen der CPPZ war nicht viel länger als der bei den Vivantes-Töchtern (50 Streiktage versus knapp über 40 Streiktage).

Es ist also auch enorm wichtig, ob sich die Beschäftigten nach einer gewonnenen gewerkschaftlichen Auseinandersetzung dauerhaft dem branchenübergreifenden Gewerkschaftskampf hingeben entweder klassenkämpferisch innerhalb einer sozialpartnerschaftlichen Massenorganisation oder bei einer von vornherein klassenkämpferischen Avantgarde-Gruppierung wie Hände Weg Vom Wedding, um zu beurteilen, ob eine gewerkschaftliche Auseinandersetzung wirklich dauerhaft klassenkämpferisch ist.
Kommen wir zum zweiten Beispiel, welches angeführt wird, um zu zeigen, dass es überhaupt nicht darauf ankommt, ob man sich mit Organizing-Methoden beschäftigt. Statt strategisch angelegtem, methodologischem Klassenkampf – so wie ich vorschlage Organizing-Methoden zu diskutieren – scheint es einfach nur wichtig zu sein, irgendwie klassenkämpferisch zu sein, unendlich lange streiken zu wollen und der Welt zu zeigen, wie sehr man gegen die Sozialpartnerschaft ist.

Paradoxerweise argumentiert Genosse Kemal wahrscheinlich ohne es zu wollen, mit seinem ländervergleichendem Beispiel für die Desintegration, bzw. die Verkümmerung der Arbeiter*innenklasse. Er geht davon aus, dass ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad überhaupt keine Rolle für den Klassenkampf spielt, denn in Frankreich gibt es im Vergleich zu anderen europäischen Ländern einen nur geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad gemessen an der Gesamtbevölkerung und dennoch ist aufgrund einer vergleichsweise gering institutionell verankerten Sozialpartnerschaft die Bereitschaft hoch, branchenübergreifende politische Generalstreiks anzuzetteln. Genau wie Genosse Kemal bewundere ich ebenfalls den historisch gewachsenen klassenkämpferischen Geist der Französinnen und Franzosen. Aber indirekt zu behaupten, ein geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad, sei etwas was man hinnehmen könne, erscheint mir nicht erstrebenswert.

Sollte man nicht eher für unabhängige, klassenkämpferische Massenorganisationen plädieren, als für ein unorganisiertes, diffuses, historisch bedingtes Klassenbewusstsein wie es in Frankreich vorzufinden ist? Und wenn man sich schon positiv auf die Französinnen und Franzosen beruft, dann sollte schon gezeigt werden, wie genau Erfolge in Frankreich nachgeahmt werden können. Entweder man nutzt Gewerkschaften für den Klassenkampf und arbeitet an entsprechend hohen Organisationsgraden oder man tut es nicht, dann müsste jedoch konsequenter Weise ein anderer Akteur ins Spiel gebracht werden, der dem Kapitalismus das fürchten lehren soll.

Kommen wir erneut zum Ausgangspunkt, der Einschätzung und Verortung von Organizing-Methoden in klassenkämpferischen Gewerkschaftsauseinandersetzungen. Genosse Kemal bedient, wie bereits beschrieben, ein meiner Meinung nach verkürztes negatives Narrativ, welches Organizing-Methoden, als herrschaftserhaltenden Verschleierungsversuch der trotzdem uneingeschränkt herrschenden Sozialpartnerschaftsideologie der „Gewerkschaftsbonzen“ versteht. Es gibt nun zwei Möglichkeiten. Entweder man folgt dem Narrativ von Genosse Kemal, steht dann aber automatisch in der Bringschuld, Alternativen zu formulieren und darzulegen, wie erfolgreiche klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik konkret aussehen kann oder man beschäftigt sich ernsthaft mit den genannten Methoden. Ich weiß zumindest, dass Genoss*innen von marx21, einer anderen marxistischen Gruppierung, dies tun. In beiden Fällen, hätte ich große Lust, mich an einer weiterführenden Diskussion zu diesem Thema zu beteiligen.

Lernen aus der Berliner Krankenhausbewegung? – Zwischen Scheitern und Erfolgen

Bei der Beurteilung des Erfolgs bzw. des Misserfolgs gibt es offenkundig große Unterschiede in unseren bisherigen Beiträgen. Genosse Kemal beurteilt mir unerklärlicher Weise nur die Ergebnisse, die bei den Töchterunternehmen der Vivantes erzielt wurden. Das Kampagnenziel, die vollständige Angleichung an den TVöD wurde nicht erreicht. Schuld war natürlich allein nur die „schändliche“ Ideologie der Sozialpartnerschaft, die angeblich die ganze Bewegung dominiert haben soll, wenn man Genosse Kemal folgt.

Was hier komplett ausgeblendet wird, ist der erzielte Tarifvertrag für Entlastung bei den Mutterbeschäftigten der Charité und Vivantes. Immerhin betrifft dieser Tarifvertrag über 16.000 Beschäftigte aus verschiedenen Gesundheitsfachberufen von Intensivkrankenpflegerinnen, MTAs der Radiologien, ATAs der Anästhesiepflege, OTAs der OP-Pflege, MFAs der Ambulanzen, Servicekräfte, KPHs, Azubis und einige mehr. Seit den 1990er Jahren und der neoliberalen Umgestaltung durch die Einführung der DRGs ins deutsche Gesundheitswesen, gepaart mit einer immer anspruchsvoller werdenden Medizintechnik, kam es zu einer radikalen Verdichtung des Arbeitspensums für Krankenhausbeschäftigte. Die Folgen dieser Entwicklung sollten ja eigentlich mindestens seit der Corona-Pandemie bei jedem angekommen sein: Berufsflucht, Personalmangel, Burnout, höchste Abbrecherinnenquote unter Ausbildungsberufen etc. Wenn also für circa 16.000 Beschäftigte an Berlins Krankenhäusern ein Tarifvertrag für Entlastung erkämpft wird, in dem verbindliche Personalbemessungsregelungen mit einem Konsequenzenmanagement festgeschrieben werden und eben dieses Ergebnis mit all seinen möglichen politischen Implikationen zwei Drittel der Krankenhausbewegung ausmacht, dann Frage ich mich wirklich sehr stark, warum Genosse Kemal auf 17 Seiten nicht ein einziges Wort zu diesem Tarifvertrag verliert. Ob kritisch oder wohlwollend, irgendeine Art von Statement wäre mehr als wünschenswert gewesen, um hier ernsthaft weiterdiskutieren zu können.

Dadurch, dass sich Genosse Kemal aus einem mir unerklärlichen Grund aufgespart hat den Erfolg oder den Misserfolg von zwei Drittel der Berliner Krankenhausbewegung zu beurteilen, ergeben sich ein paar Folgeprobleme, z.B. bei der Beurteilung, welche Laufzeit für einen Tarifvertrag klassenkämpferisch und welche sozialpartnerschaftlich ist. Im Fall des Tarifvertrags für Entlastung, dass habe ich bereits in meinem ersten Antworttext geschildert, macht es rein konzeptionell und inhaltlich wenig Sinn, eine sehr viel kürzere Laufzeit als drei Jahre zu fordern. Wenn man hier eine kürzere Laufzeit fordert, dann sollte man sich zumindest ein bisschen bemüht haben, sich mit der Materie ehrlich auseinanderzusetzen. Das anspruchsvolle Ziel, verbindliche Personalbemessungsregeln für mehrere 1000 Kolleginnen und Kollegen in dutzenden Stationen und Bereichen festzulegen, wurde erreicht und genau darin besteht der große Erfolg des erkämpften Tarifvertrags für Entlastung. Die große Mehrheit der Beschäftigten, die ich persönlich kennengelernt habe, erkennt eben diesen Erfolg genauso an. Mit Bezug auf die Ergebnisse bei den Töchtern der Vivantes, kann ich wiederum nur folgendes sagen: Es reicht einfach nicht aus, zu sagen, es hätte weitergestreikt werden müssen, dann hätten sich die 100 % des TvÖDs schon erreichen lassen und die Laufzeit des Tarifvertrags wäre anstelle von drei Jahren auf ein Jahr oder sechs Monate oder eine eine Woche reduziert worden. Genosse Kemal nennt hier folgendes Prinzip: „Für einen kämpferischen betrieblichen Akteur sollte bei Tarifverträgen immer das Prinzip gelten: „Je kürzer desto besser!““. Ich frage mich hier einfach nur, was ist kurz und was ist lang? Wer legt wann und unter welcher Voraussetzung fest, was ein kurzer oder ein zu langer Waffenstillstand ist? Hier fehlen verallgemeinerbare Kriterien, ohne die das schön radikal klingende Prinzip leider zahnlos bleibt.

Auch in einer klassenkämpferischen Auseinandersetzung lässt sich kein Ergebnis herbei wünschen. Ich bleibe bei meiner Ursprungskritik, dass der Streik in eurem re:volt-Artikel, zu einem unstrategischen, sakral verklärtem Element verkümmert. Ein Streik ist kein Selbstläufer, egal wie sehnlich man ihn sich herbeiwünscht. Im Fall der Berliner Krankenhausbewegung lässt sich ziemlich genau nachvollziehen, wie sich anhand der Gewerkschaftsbeitritte die Kampfkraft und die Streikfähigkeit der Beschäftigten entwickelt hat. Ohne das 100-Tage-Ultimatum und die Zwischenschritte zum Stärkeaufbau, die in diesem Zeitraum gegangen wurden, wären nur weniger als halb so viele Beschäftigte am Streikposten aufgetaucht. Wir, als Organizerinnen und viele Beschäftigte hatten die Beitrittszahlen permanent vor Augen, auch die Zahlen zu der Beteiligung an den Streiks wurden konstant analysiert. Wie kann man nur ohne eine Ahnung von diesen Zahlen zu haben, behaupten, dass das Ultimatum zu lang und der Streik zu kurz war? Das erschließt sich mir in keinster Weise: „Falsch war es, dass eine dermaßen langandauernde „Ultimatumszeit“ ohne eine Einleitung von Streiks, ohne den effektiven Druck von Arbeitskampfmaßnahmen nicht genutzt wurde. Falsch war es, dass man bei der Festlegung der Streikstrategie nicht davon ausgegangen war, dass Arbeitskampfmaßnahmen selbst über einen enorm mobilisierenden Effekt, eine neue Mitglieder organisierende Qualität verfügen können.“ Diese Aussage ist vielleicht irgendwie nett gemeint und ich bin der letzte, der einem radikalen, langfristigen Gewerkschaftskampf aus dem Weg gehen will, aber die Zahlen sprechen einfach eine komplett andere Sprache. Die meisten Mitglieder wurden im Verlauf der Forderungsabfrage durch intensive Einzelgespräche, die von Beschäftigten und Organizerinnen geführt wurden, gewonnen (circa drei bis vier Wochen vor dem ersten Warnstreik). Während des ersten Warnstreiks kamen auch viele Mitglieder hinzu. Im Verlauf des Erzwingungsstreiks nahm die Teilnehmer*innenanzahl an den Streikposten spätestens ab der dritten Woche stetig ab. Die Neumitgliedergewinnungszahl tendierte schon nach wenigen Erzwingungsstreiktagen gen Null. Die genauen Zahlen, können wir uns gern separat anschauen, falls der Bedarf bestehen sollte. Damit ist die Behauptung, dass das Ultimatum zu lang gewesen sein soll, schlicht und ergreifend falsch. Wenn jeder Streik, egal wie klassenkämpferisch er ist, zwangsläufig dazu führen würde, dass sich immer mehr Beschäftigte bei fortschreitender Laufzeit an ihm beteiligen, bräuchten wir uns um den Kommunismus keine Sorgen mehr machen. Es gibt einfach zu viele andere Faktoren, die im Arbeitskampf berücksichtigt werden müssen, als dass man so eine verkürzte, verallgemeinernde Aussage treffen könnte.

Jetzt könnte man natürlich behaupten, dass die Schuld bei den sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsbonzen zu suchen sei und dass die Beschäftigten, die eigentlich weiterstreiken wollten, von uns und den Gewerkschaftsbonzen eingelullt und entmutigt wurden. Ich möchte hier nicht behaupten, dass tendenziöse Beeinflussung von Mitgliedern keine verbreitete Praxis in DGB-Gewerkschaften ist! Diese Negativbeispiele lassen sich sicher zu Genüge finden. Das größere Problem ist natürlich, wenn komplette mehrheitlich streikwillige Belegschaften übergangen werden, das ist in der Tat schändlich. Ich finde es auch absolut undemokratisch und reaktionär, dass die Entscheidung über die Aufnahme und die Fortsetzung eines Streiks in letzter Instanz einzig und allein von einem Bundesvorstand getroffen wird. Im Fall der Berliner Krankenhausbewegung kam es jedoch nicht zu so einer Beeinflussung, Bevormundung oder Eingreifen des Vorstands. Meine These ist, dass eine Reihe von starken und kämpferischen Beschäftigten eher das Hauptamt zumindest phasenweise vor sich hergetrieben haben.

Hier kommen wir zu einem Knackpunkt der Meinungsverschiedenheit zwischen Genosse Kemal und mir. Meinen Beobachtungen und meines Wissens zu Folge wurde der ursprüngliche Kampagnenplan von klassenkämpferischen Beschäftigten und einer Handvoll klassenkämpferischen Organizerinnen ausgeheckt und nicht wie von Genosse Kemal behauptet wird, von „oben“ vorgegeben. Die grundsätzlichen Ziele und die Strategie der Kampagne wurden in erster Linie von einer Reihe von Beschäftigten im Zusammenspiel mit Organizerinnen bestimmt. Natürlich wurde dieser Kampagnenplan dann in einem Antrag verpackt und den bürokratischen Entscheidungsgremien ver.di‘s vorgelegt. Der Plan musste abgesegnet werden, aber es besteht ein großer Unterschied zwischen „von oben vorgegeben“ und „von oben abgenickt“ und auch in der Endphase der Auseinandersetzung gab es erhebliche Bedenken innerhalb des Apparats den Streik länger als ursprünglich geplant (also von oben abgenickt) weiterlaufen zu lassen.

Ein wichtiger Aspekt darf hier nicht vernachlässigt werden: Ein Streik und Organizerinnen kosten Geld und wenn diese sich nicht refinanzieren lassen, muss eben auf Organizerinnen und Streikgeld verzichtet werden. Schon nach zwei Wochen Streik bei den Töchterbeschäftigten, kamen viele Töchterbeschäftigte trotz Streikgeld in finanzielle Schieflagen. Durch eine effektive Crowdfunding-Kampagne wurden über 80.000 € gesammelt, um die streikenden Beschäftigten in Notlagen zu unterstützen. Ohne Streikgeld lässt sich ein Streik in dieser Größenordnung kaum mehr als einen Tag, schon gar nicht über einen Monat, aufrechterhalten. Stattdessen würde ich vorläufig dafür plädieren, Entscheidungen über die Finanzierung von großen Kampagnen und Streikbewegungen in großen Gewerkschaften unter allen Mitgliedern, die schließlich für den Spaß zahlen, zu demokratisieren. Das wäre klassenkämpferischer als der reaktionäre, sozialpartnerschaftliche IST-Zustand – aber poco a poco.

Ich stehe zu meiner Einschätzung, dass es allgemein einen elementaren Unterschied zwischen Streiks mit einer funktionierenden Teamdelegiertenstruktur gibt und Streiks, in denen es diese nicht gibt und dass dieser Unterschied von klassenkämpferischer Relevanz ist und dass die Berliner Krankenhausbewegung eine gut (besser geht immer) funktionierende Teamdelegiertenstruktur hatte, die der Tarifkommission und dem involvierten Hauptamt den Ton angegeben hat. Falls Genosse Kemal da anderer Meinung ist, fordere ich ihn dazu auf, einen konträren Standpunkt genau zu belegen. Natürlich kann ich am Ende immer sagen, dass das Problem die Hierarchie ist, dass die sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftsführung alles unter Kontrolle hat. Aber auch hier fordere ich Genosse Kemal auf, konkrete Schritte zu benennen und darzulegen wie man eben diese Hierarchie schlau und listenreich aufbrechen kann.

Was tun mit der Berliner Krankenhausbewegung? – Perspektiven für den Klassenkampf im deutschen Gesundheitswesen

Wie das Beispiel der Physiotherapeut*innen der CPPZ zeigt, ist nicht zwangsläufig die Erfüllung einer Maximalforderung und die Länge eines Streiks ausschlaggebend dafür, dauerhaft wirkendes Klassenbewusstsein zu erzeugen. Es sind zwei sehr wichtige Faktoren, aber eben nicht die einzigen. Wie könnte man den Begriff Klassenbewusstsein besser messbar machen, um Erfolge und Misserfolge von gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen einschätzen zu können? Ich habe hier kein Patentrezept und kann mich der Antwort auf diese Frage nur annähern. Genosse Kemal schlägt vor, dass das wichtigste Kriterium für die Beurteilung von Klassenbewusstsein in der individuellen Überzeugung eines jeden Beschäftigten liegt. Die Überzeugung müsse konsequent die Ideologie der Sozialpartnerschaft demaskieren und bekämpfen. Die Kapitalseite darf nicht als Partnerin betrachtet werden, sondern Beschäftigte müssen zur festen Überzeugung kommen, dass es im bestehenden kapitalistischen System zu keinem Interessensausgleich und zu keiner Partnerschaft kommen kann. Hier gehe ich voll und ganz mit. Ein Gütesiegel für das Klassenbewusstsein eines jeden und einer jeden Beschäftigten ist es, herrschaftskritisch und ideologiekritisch zu sein. Daraus erwächst natürlich auch die Aufgabe, das Sozialpartnerschaftskonstrukt anzugreifen – das steht außer Frage! Praktisch würde das wiederum heißen, dass der Gewerkschaftsapparat in strategisch entscheidenden Momenten herausgefordert wird, um Gegenmacht aufzubauen.

Wie misst man nun das Mehr an herrschafts- und ideologiekritischem Klassenbewusstsein, das im Anschluss an eine erfolgreiche, klassenkämpferische Gewerkschaftsauseinandersetzung entsteht? Wie misst man das Mehr an Überzeugung, dass die Sozialpartnerschaftsideologie „schändlich“ ist? Ich würde behaupten, dass ein wichtiges Beurteilungskriterium in der Bereitschaft liegt, sich dauerhaft auf klassenkämpferische Art und Weise gewerkschaftspolitisch zu organisieren und dafür gibt es wiederum idealtypischer Weise drei Möglichkeiten:

  1. Man organisiert sich in einer von vornherein revolutionären sozialistischen Organisation.
  2. Man versucht unter extremen Widrigkeiten eine sozialpartnerschaftlich dominierte Gewerkschaft punktuell klassenkämpferisch wirken zu lassen mit dem Ziel diese klassenkämpferischen Kämpfe skalieren und permanent reproduzieren zu können.
  3. Man entscheidet sich für beides gleichzeitig.

Ich würde es stark begrüßen, wenn Krankenhausbeschäftigte sich bei sozialistischen Organisationen wie marx21 oder Hände Weg Vom Wedding organisieren.

In einer Reihe von Vorläuferauseinandersetzungen zur Berliner Krankenhausbewegung an anderen Kliniken im Bundesgebiet haben sich einige Beschäftigte dazu entschlossen, sich langfristig bei marx21 zu engagieren. Auch im Rahmen der Krankenhausbewegung gibt es enge politische Bindungen zwischen marx21-Aktivist*innen und Kernaktiven. Ich hätte mich sehr gefreut auch Genossinnen von Hände Weg Vom Wedding häufiger, bzw. überhaupt am Streikposten im Virchow-Klinikum oder auf einer der zahlreichen großen Demonstrationen und Kundgebungen zu begrüßen, um eine gemeinsame Strategie aushandeln zu können. Ein Streik lässt sich sicherlich auch besser beurteilen, wenn man näher an ihm dran ist. Euer Artikel im re:volt-Magazin erschien am 16. November 2021. Genosse Kemal schildert, dass euer Ziel gewesen ist, die Beschäftigten der Töchterunternehmen der Vivantes dazu zu bewegen, das Eckpunktepapier abzulehnen. Das gestaltet sich jedoch schwer, denn die Abstimmung des Eckpunktepapiers war schon Mitte Oktober. Außerdem stellt sich die Frage, wie viele Beschäftigte der Töchterunternehmen von Vivantes das re:volt-Magazin lesen.

Sind die Beschäftigten der Berliner Krankenhausbewegung durch ihren Erfolg positiv bestärkt nun klassenkämpferischer als zuvor? Diese Frage lässt sich bei der Berliner Krankenhausbewegung, als auch in jeder anderen gewerkschaftlichen Auseinandersetzung nicht leicht beantworten, denn es fehlen Parameter und gute Kriterien, anhand derer man Erfolg messbar machen kann. Es gibt jedoch einige spannende Anzeichen, die diskussionswürdig sind. Ich habe nach wie vor Kontakt zu einigen wichtigen Beschäftigten aus der Krankenhausbewegung. Alle der selbstbewussten, spannenden Führungsfiguren hatten entweder seit dem Beginn der Bewegung ein ausgesprochen kritisches, misstrauisches Verhältnis zur ver.di-Funktionärsebene oder es im Verlauf und im Anschluss des Tarifkampfs entwickelt. Ein langjährig aktiver Gewerkschaftssekretär aus dem Fachbereich räumte zu Beginn der Kampagne sogar seinen Posten, da der Druck aus der Basis auf ihn hoch war. Ersetzt wurde er durch einen neuen Sekretär der bei marx21 organisiert ist. Mein Eindruck ist, dass sich bei der Charité und der Vivantes größere und kämpferische ver.di-Betriebsgruppen etabliert haben, die sich jetzt schon auf kommende Auseinandersetzungen einstellen. Wie durchsetzungsfähig diese Betriebsgruppen in Zukunft sein werden, bleibt mit Spannung abzuwarten.

Viele Beschäftigte der Krankenhausbewegung fahren aktuell in ihrer Freizeit nach NRW, wo sie ihre Kolleginnen und Kollegen in fünf Unikliniken dabei unterstützen, sich auf Streiks vor den Landtagswahlen vorzubereiten. Das Ziel sind Entlastungstarifverträge, mindestens so gut wie die der Charité und Vivantes, die im bundesweiten Vergleich die besten in Deutschland sind. In ganz Deutschland verfolgten Krankenhausbeschäftigte den Tarifkampf in Berlin mit Spannung, denn am Ende geht es nicht nur um einen Tarifvertrag Entlastung, sondern um eine bedarfsgerechte, menschenwürdige Patient*innenversorgung, die nicht dem Diktat der neoliberalen Ökonomisierung unterworfen ist. An dieser Stelle finde ich es etwas befremdlich, dass Genosse Kemal eine Hackordnung zwischen der Berliner Krankenhausbewegung und dem im selben Zeitraum verbandsfreien, wilden Streiks bei den GORILLAS aufmacht:
„Aus politischer und arbeitsrechtlicher Sicht spielte der Kampf der Beschäftigten von GORILLAS im Vergleich mit dem Tarifkampf der Beschäftigten in den Berliner Kliniken eine deutlich wirkungsvollere und zukunftsweisendere Rolle.“

Zunächst denke ich, dass beide Streiks ein breites mediales, gesellschaftspolitisches Echo erhalten haben und über den konkreten Arbeitskampf hinaus politisch wirken. Bei den Gorillas ist es die Debatte um die Legalisierung von verbandsfreien Streiks und bei der Berliner Krankenhausbewegung ist es im weiteren Sinne die Debatte um die Abschaffung der DRGs. Hier den einen Kampf gegen den anderen auszuspielen, erscheint mir nicht sehr zielführend. Ich teile die Einschätzung von Genosse Kemal, dass verbandsfreie Streiks, fern des schädlichen Einfluss von Gewerkschaftsbürokratien enormes klassenkämpferisches Potential entfesseln können, aber am Ende müssen sich auch verbandsfreie Streiks, denselben taktischen und strategischen Fragen des Organisationsaufbaus, des Kampfs um Mehrheiten, der partizipativen, demokratischen Entscheidungsstrukturen, der Durchsetzungsfähigkeit etc. stellen.
Mit Bezug auf ihre Arbeitgeberinnen (sowie Klinikleitungen als auch Landespolitik) haben die meisten Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser ein tiefes misstrauisches, gegnerisches bis klassenkämpferisches Verhältnis an den Tag gelegt. Dieses antagonistische Verhältnis hat sich während der Arbeitskampfmaßnahmen weiter vertieft. Ein Schlüsselmoment für die Krankenhausbewegung war der Versuch der Vivantes-Klinikleitung den Streik durch eine Unterlassungsklage im Keim zu ersticken. Der Versuch wurde vom Berliner Arbeitsgericht abgeschmettert und den Beschäftigten der Vivantes wurde deutlich vor Augen geführt, wie wenig ihre Klinikleitung und die verlogene Landespolitik von den Streikenden hielten. An dem Tag, an dem für die Kolleginnen der Vivantes der Streik untersagt war, meldeten sich kurzer Hand Dutzende Beschäftigte krank und am dritten Warnstreiktag, als die Mütterbeschäftigten wieder alle gemeinsam mit den Töchterbeschäftigten mit viel Genugtuung vor der Geschäftszentrale der Vivantes aufschlugen, entlud sich Wut der Beschäftigten auf einer kraftvollen Demonstration mit über 2000 Beschäftigten (eine Streikdemo von Beschäftigten, die Notdienst leisten müssen und im Wechselschichtsystem arbeiten an einem Mittwochvormittag ist nichts alltägliches!).

Vor allem den Gesundheitsarbeiter*innen der Charité ist bewusst, dass ihre eigene Klinikleitung alles in ihrer Macht stehende tun wird, um die Wirkmächtigkeit des Tarifvertrags Entlastung zu bekämpfen. Es wird also eine permanente Auseinandersetzung um die Detailregelungen des Vertrags geben, bevor es in zwei Jahren in die Vorbereitung der nächsten Tarifrunde Entlastung geht. Eben diese spannende Auseinandersetzung ist bereits jetzt in vollem Gange. In diesem Kampf gilt es, die Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser weiterhin zu unterstützen, denn auch wir werden früher oder später auf ihre Versorgung angewiesen sein und wie es so schönt heißt „Profite pflegen nun mal keine Menschen“.

Fazit

Werter Genosse Kemal, werte Genoss*innen von Hände weg vom Wedding, ich hoffe, ich konnte einige eurer Zweifel an grundlegenden Standpunkten meinerseits aus der Welt räumen und ich hoffe noch mehr, dass ihr ein paar meiner Kritikpunkte besser versteht. Es ging mir in meinen Ausführungen weniger um Grundsatzfragen, die natürlich trotzdem ständig theoretisch weiter entwickelt werden müssen, sondern vor allem, um strategisch-taktische Fragen, die sich aus Grundsatzpositionen ableiten lassen. Am Ende ist es mir auch egal, ob Methoden und Prinzipien zur Durchsetzung klassenkämpferischer Politik als Organizing-Methoden bezeichnet werden oder nicht. Hauptsache wir stellen uns den wichtigsten Strategiefragen. Ich bin der Überzeugung, dass lobenswerte Grundsätze, ohne eine gute praktische Anbindungsfähigkeit an reale Kämpfe leider nicht ausreichen, um erfolgreiche klassenkämpferische Gewerkschaftsarbeit zu leisten. Die Praxis steht mit der Theorie in einem permanenten Wechselspiel und eine revolutionäre Theorie lässt sich eben nur im Wechselspiel mit der Praxis weiterentwickeln. Ich bin gespannt, welche Vorschläge und Beispiele ihr ins Spiel bringen werdet, um eure Grundsatzpositionen praxisfähiger zu machen.

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Vorläufige Schlussworte

Vorläufige Schlussworte: Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive!

von der Arbeitskampfkommission in „Hände weg vom Wedding!“, Mai 2022

Als sozialistische Stadtteilorganisation kämpfen wir in unseren Arbeitsbereichen darum, uns als arbeitende Klasse zu stärken, unsere Interessen zu artikulieren und nicht zuletzt: unsere Interessen auch durchzusetzen. Die große Frage bleibt, wie wir für eine Gesellschaft streiten und kämpfen können, in der ein Mensch nicht Sklave, Knecht oder Herr ist. Fakt ist, dass es dazu keine dem Kapital gegenüber versöhnlerischen Gewerkschaften braucht, sondern Kampforganisationen, die in der Lage sind, reale Klassenmacht auszuüben.
Die breit unterstützten Streiks von Kolleg*innen im Rahmen der hier diskutierten Berliner Krankenhausbewegung machen Mut, dass outgesourcte Belegschaften trotz ihrer versuchten Vereinzelung kämpferische Solidarität entwickeln. Die „wilden“ (sogenannten verbandsfreien) Streiks in Plattform-kapitalistischen Ausbeuterbetrieben wie Deliveroo, Lieferando und Gorillas zeigen auf, dass auch die Digitalisierung und Isolation der einzelnen Arbeitsverhältnisse das Kapital nicht vor kräftiger Gegenwehr der Kolleg*innen schützt. Diese „wunden Punkte“ (Nina Scholz) offen zu legen, heißt verstehen zu lernen, dass wir die wirtschaftlichen Monopole von Amazon über Google bis hin zu Start-Up-Ausbeuterbuden mit ihrer arbeiter*innenfeindlichen Politik ausbremsen können. Die Arbeitsverhältnisse unter neoliberalen Vorzeichen, Digitalisierung und einer weiteren Internationalisierung der Arbeiter*innenklasse, schafft für uns neue Möglichkeiten der Organisierung mit den Kolleginnen. Die vorliegende Broschüre ist ein Ausdruck notwendiger theoretischer und strategischer Debatten für eine zeitgemäße Antwort auf die Fragen nach Gewerkschaften, Betriebspolitik und Klassenkampf. Uns ist bewusst: Es geht um die großen Themen. Wie können wir mit Kolleg*innen das schlagwortartig adressierte Klassenbewusstsein der Belegschaften auch tatsächlich entwickeln? Hierzu ist nicht nur die theoretische Einsicht in die Notwendigkeit, das abstrakte Verständnis der bestehenden und sich weiter verschärfenden Klassengesellschaft und ihrer Abschaffung wichtig. Gerade im praktischen Kampf um Gesundheits- und Arbeitsschutz, um Tarifverträge und Arbeitsentlastung, Gleichstellung und Würde, wird die häufig so abstrakte Debatte um Klasse, Bewusstsein und betriebliche Organisierung greifbar.

Als Lohnarbeiter*innen wissen wir selbst um die existentielle Dringlichkeit, uns kollektiv gegen die Angriffe des Kapitals zur Wehr zu setzen und konkrete Verbesserungen für unser Leben im hier und jetzt zu erkämpfen. Dass wir für konfliktorientierte Zuspitzungen dieser Kämpfe eintreten liegt darin begründet, dass wir davon ausgehen, dass damit auch weitreichendere Forderungen durchgesetzt werden können. Als Revolutionärinnen begreifen wir den Kampf um Reformen und damit auch aktuelle Arbeitskämpfe aber nie als Selbstzweck oder gar als kleine Schritte auf dem geradlinigen Weg zum Kommunismus, sondern immer als Momente des Lernens, der Bewusstseinsbildung und Einigung als Klasse. Hier zeigt sich der Gegensatz der Klasseninteressen ganz offen, hier zeigt sich aber auch immer wieder der begrenzte Spielraum für Veränderungen im Kapitalismus.

Als klassenbewusste Arbeiterinnen und organisierte Kommunist*innen, sehen wir es dementsprechend als unsere Aufgabe an, „die sozialistische Aufklärung der Arbeiterklasse im alltäglichen Kampfe“ [1] voran zu treiben und schließen uns selbst dabei explizit mit ein. Luxemburg betont in ihrem Konzept der ‚revolutionären Realpolitik‘ „die Beziehung […] des praktischen Kampfes zum Endziel. Nur das Endziel ist es, welches den Geist und Inhalt unseres sozialistischen Kampfes ausmacht, ihn zum Klassenkampf macht.“ [2]

Um diesen praktischen Kampf in den verschiedenen Arbeitsfeldern von „Hände weg vom Wedding“ zu führen, wenden auch wir Organizing-Methoden an, in manchen mehr, in manchen weniger. Als Arbeitskampfkommission betrachten wir diese als Werkzeuge, die wir nutzen sollten, wo es sinnvoll ist, ohne sie aber per se als klassenkämpferisch oder revolutionär zu verklären. Denn dazu braucht es eben auch die analytische, theoretische und vor allem kritische Einordnung der Tageskämpfe in die Dynamiken des Kapitalismus sowie die Vision einer gerechten, einer sozialistischen Gesellschaft.
Als „Hände weg vom Wedding!“ bauen wir neben anderen Themen auch Räume der konkreten Solidarität für (aktive) Kolleginnen aus. Mit dem Beitritt der „Berliner Aktion gegen Arbeitsunrecht“ (BAGA) im November 2021 haben wir einen bescheidenen Beitrag geleistet, Arbeitskämpfe symbolisch wie auch praktisch weiter in das politische Bewusstsein unserer Klasse und in die linke Bewegung in unserem Kiez zu rücken. [3] Mittlerweile sind zwei Solidaritätstreffs für Kolleginnen der Sozialen Arbeit sowie für Kolleg*innen aus allen anderen Branchen entstanden, die weiter kontinuierlich Information, Austausch, Öffentlichkeit und praktische Unterstützung für uns selbst und Kolleg*innen in laufenden und kommenden betrieblichen Auseinandersetzungen schaffen. So stärken wir uns in den Fragen um Betriebs- oder Personalräte, Betriebsgruppen sowie die Rolle von Gewerkschaften und ihre Interessenspolitik für uns Lohnabhängige, um einerseits konkrete Anknüpfungspunkte für betriebliche Organisierung in Aussicht zu haben. Andererseits diskutieren wir im kollegialen Rahmen Erfahrungen und Strategien, sich nicht durch Bürokratie, Funktionär*innen und den rechtlich eng gesteckten Rahmen in das System einlullen zu lassen. Und daran gilt es anzuknüpfen.

Den existenzbedrohenden Fragen einer sich aus der Corona-Pandemie verschärften wirtschaftlichen Lage, der Energiekrise, der spürbaren Preisexplosion in nahezu allen Lebensbereichen, die sich ausbreitende Gefahr eines ausgedehnten imperialistischen Krieges hierzulande, können wir bekanntermaßen nur als Arbeiter*innen begegnen. Doch wo ist unser Hebel? Zu lange haben wir als Linke unsere eigenen Arbeitsverhältnisse brach liegen gelassen. Wir haben uns in der Vergangenheit vor allem auf zu gewinnende Kämpfe um demokratische Rechte in der Gesellschaft, beispielsweise gegen Rassismus und Diskriminierung, konzentriert. Diese Kämpfe zu führen ist wichtig, verkommen jedoch schnell zu Repräsentations- und Anerkennungskämpfen, die von rechts integriert werden und ihrem antikapitalistischen Gehalt beraubt werden. Der „progressive Neoliberalismus“ der aktuellen Ampelkoalition demonstriert dieses Dilemma Tag für Tag. Erst die Kämpfe in unserer Lohnarbeit schaffen für uns als Klasse eine kollektive Perspektive von Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung. Der Kampf um demokratische Rechte und der Kampf gegen die Lohnsklaverei müssen folgerichtig als Einheit betrachtet werden. In unserem Stadtteil werden die Kämpfe bereits aufeinander bezogen. Doch welche Möglichkeiten ergeben sich, wenn die bestehenden Massenorganisationen unserer Klasse hierfür genutzt werden, mit ihren (noch) hunderttausenden aktiven und meist passiven Mitgliedern? Es braucht also verstärkten Druck auf die Gewerkschaften. Bürokratismus, mangelnde Demokratie, Korrumpierung, Sozialpartnerschaft usw. dürfen uns nicht davon abhalten,uns von unten und von links in unseren in der Geschichte erkämpften Gewerkschaften aktiv einzubringen. [2] Die geflogenen Eier auf Franziska Giffey als Stellvertreterin der Sozialdemokratie bei der DGB-Kundgebung am 1. Mai in Berlin sind richtig. Jedoch gibt es nicht ausreichend Eier auf der Welt, um die „Sozialpartner*innen“ in der herrschenden Politik und in den Gewerkschaften ausreichend einzukleiden.
Es sind wir als klassenbewusste Lohnabhängige, die sich noch aktiver theoretisch, diskursiv und praktisch zur Gewerkschaftsfrage einmischen müssen.

Diese Broschüre dient somit dazu, uns kollektiv Mut machen und politische Inspiration zu geben. Die notwendigen Debatten um die vielfältigen Strategien in der Initiierung und Unterstützung von betrieblicher und gewerkschaftlicher Organisierung, von Arbeitskämpfen, sind noch lange nicht ausreichend geführt. Sie dürfen jedoch nicht zum Papiertiger werden, sondern müssen sich immer wieder in der Praxis einer Prüfung unterziehen. Und darum bedanken wir uns bei Omar Orgagrad, diese Kontroverse solidarisch mit uns geführt zu haben. Bei der „bloßen“ Debatte bleibt es jedoch nicht.

Für die sozialistische Praxis braucht es eine noch stärkere Verschränkung mit populären Kämpfen, feministischen, mietenpolitischen, antifaschistischen/ antirassistischen und weiteren. Nur so können wir als arbeitende Klasse die Bühne als wirklicher Antagonist zur Ausbeutung für die Profite und Rendite der Reichen betreten. Die Losung „Sozialismus oder Barbarei“ von Rosa Luxemburg ist schließlich nicht weniger aktuell. Wir entscheiden uns für das Erstere. Entschlossen arbeiten wir gemeinsam daran. Mit Euch!

„Will man der „Masse“ helfen und sich die Sympathien, die Zuneigung, die Unterstützung der ‚Masse’ erwerben, so darf man sich nicht fürchten vor Schwierigkeiten, darf man sich nicht fürchten vor den Schikanen, den Fußangeln, den Beleidigungen und Verfolgungen seitens der ‚Führer‘ (die als Opportunisten und Sozialchauvinisten in den meisten Fällen direkt oder indirekt mit der Bourgeoisie und der Polizei in Verbindung stehen) und muß unbedingt dort arbeiten, wo die Massen sind. Man muß jedes Opfer bringen und die größten Hindernisse überwinden können, um systematisch, hartnäckig, beharrlich, geduldig gerade in allen denjenigen – und seien es auch die reaktionärsten Einrichtungen, Vereinen und Verbänden Propaganda und Agitation zu treiben, in denen es proletarische oder halbproletarische Massen gibt. Die Gewerkschaften und die Arbeitergenossenschaften […] sind aber gerade Organisationen, die Massen erfassen.“

Lenin, Sollen Revolutionäre in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten?, in: Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit des Kommunismus, 1920

[1] Rosa Luxemburg, in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 1998
[2] Ebenda
[3] Erklärung zum Zusammenschluss von „Hände weg vom Wedding“ und der „Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht“, siehe hier

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