Mitteilung: Obdachlosigkeit verhindern – Wohnungen beschlagnahmen!

In diesem Artikel schildern wir unsere Intervention bei der BVV in Berlin Mitte vom 21.11.19 und die Hintergründe zur Beschlagnahme von Wohnungen zur Abwendung von Obdachlosigkeit durch Zwangsräumungen.

Am Donnerstag den 21.11.2019 haben wir mit einer Kundgebung die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte besucht. Anlass ist die drohende Zwangsräumung von unserem Nachbarn Daniel. Er soll mitten im Winter von einer Gerichtsvollzieherin auf die Straße gesetzt werden. Das wollen wir mit allen Mitteln verhindern.

Wir haben deshalb den Bezirk aufgefordert, die drohende Zwangsräumung und damit verbundene Obdachlosigkeit von Daniel durch eine vorübergehende Übernahme der Wohnung durch den Bezirk zu verhindern. Ein entsprechender Antrag wurde von Katharina Mayer (BVV-Verordnete, Die Linke) eingebracht und mit den Stimmen von Linke, Grünen und Piraten mehrheitlich angenommen.

Der Bezirk ist damit aufgefordert, die Möglichkeit der Beschlagnahmung von Daniels Wohnung zu prüfen. Die SPD konnte sich nicht überwinden diesen Antrag zu unterstützen und hat sich enthalten. Absurderweise attestierte Baustadtrat Gothe (SPD) gleichzeitig auf der Versammlung dem Bezirk, Vorreiter in der Prävention von Obdachlosigkeit zu sein.

Zu den rechtlichen Details: Der Bezirk hat nach §16,17 des Berliner Sicherheits- und Ordnungsrechts (ASOG) die Möglichkeit, Wohnraum zur Abwendung drohender Obdachlosigkeit zu beschlagnahmen. Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten des wissenschaftlichen Parlamentsdienstes des Berliner Abgeordnetenhauses vom 25.02.2019 [1]. Dieses Gutachten stellt fest, dass eine sogenannte Wiedereinweisung von Personen in eine gekündigte Wohnung grundsätzlich möglich ist. Der Eigentümer der beschlagnahmten Wohnung hat hierbei einen Anspruch auf Nutzungsentschädigung. Die Beschlagnahme dürfe erfolgen, wenn eine konkrete Notlage vorliegt, wenn also der Betroffene durch eine Zwangsräumung von Obdachlosigkeit bedroht wäre und es keine anderweitige Möglichkeit der Unterbringung gibt.

Bezirkstadtrat Gothe (SPD) behauptete in der Bezirksverordnetenversammlung, dass der Bezirk immer in der Lage sei, eine Person die zwangsgeräumt wird, unterzubringen. Damit sei die Beschlagnahme einer Wohnung vom Tisch.

Dabei hat diese Unterbringung allerdings wenig mit dem zu tun, was internationale Menschenrechtsorganisationen unter Wohnen und Leben verstehen: Bei einer Zwangsräumung muss als Ersatz ein angemessener Wohnraum gestellt werden, in dem menschenwürdiges Wohnen und Leben möglich ist [vgl. §25 Abs.1 AEMR; §11 Abs.1 UN-Sozialpakt].

Ein Blick auf die Unterbringungsmöglichkeiten des Bezirks zeigt, dass es sich um Einrichtungen der Obdachlosenhilfe handelt: eine Unterbringung in den Notunterkünften (Krisenwohnen) in Berlin-Mitte ist i.d.R. auf 28 Tage begrenzt und nur als Übernachtungsmöglichkeit und Schutz vor Gefahren und Kälte gedacht. Die Nutzer*innen können sich tagsüber dort nicht aufhalten.

Eine weitere Möglichkeit ist die Unterbringung nach ASOG. Die Grundlage der Unterbringung in die sogenannten ASOG-Einrichtungen des Bezirks ist jedoch, dass wohnungslose Menschen weniger als schutzbedürftig betrachtet werden, sondern als Störer der öffentlichen Ordnung. Im Fokus steht hier also nicht die zwangsgeräumte Person [2]. Nicht in allen ASOG-Einrichtungen sind Sozialarbeitende angestellt. Eine langfristige Unterbringung ist dort ebenfalls nicht möglich.[3]

Letztlich bliebe dem Bezirk noch die Unterbringung nach §67 SGB XII zur Überwindung sozialer Schwierigkeiten. Hiermit sollen durch sozialarbeiterische Unterstützung soziale Schwierigkeiten überwunden werden. Ziel ist ein eigenverantwortliches Lebens, in der eigenen Wohnung.

Was gerne vergessen wird: Daniel hat eine eigene Wohnung! Er ist also (noch) nicht obdachlos. Die ihm drohende Obdachlosigkeit in Folge der drohenden Zwangsräumung könnte durch den Bezirk abgewendet werden – wenn die Wohnung vorübergehend beschlagnahmt wird bis eine Ersatzwohnung zur Verfügung steht. Würde sich der Bezirk schützend vor Daniel stellen, wäre auch den Bemühungen um die Überwindung von sozialen Schwierigkeiten genüge getan

Im Gegensatz zur in diesem Fall unangemessenen Unterbringung in Ersatzwohnraum für Obdachlose, wie z.B. auf der Grundlage von §67, würde so auch der aktuelle Wohnraum gesichert bis neuer Wohnraum vorhanden ist. Diese Regelung ist im Übrigen im kommunalen Wohnraumversorgungsgesetz verankert: es dürfen „Zwangsräungen allenfalls dann zur Anwendung kommen, wenn die Betroffenen anderweitig mit Wohnraum versogt sind (§4 Abs.3 WoVG).

Unsere Pressesprecherin Maja Prause:

“Anstatt die Versorgung von Obdachlosen im Bezirk zu loben, sollte sich die SPD ihrer Verantwortung bewusst werden und bei Zwangsräumungen Menschen vor der Obdachlosigkeit schützen. Wenn Menschen in Not sind, besteht dringender Handlungsbedarf. Der Bezirk muss aktiv werden und Betroffene vor Zwangsräumungen schützen und sie nicht erst unterstützen, wenn sie bereits obdachlos sind“

Der Verlust der eigenen Wohnung und die damit verbundene Unterbringung in Ersatzwohnraum bedeutet für die Betroffenen immer eine Verschlechterung der Lebensbedingungen. Eine Zwangsräumung der eigenen Wohnung ist ein traumatisierender Akt der Gewalt für die Betroffenen, der mit allen Mitteln verhindert werden muss.

Wir fordern den Bezirk Berlin-Mitte deshalb auf, sich schützend vor von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen zu stellen! In Zeiten von Mietenwahnsinn und jährlich über 5000 Räumungsurteilen in Berlin ist jede Zwangsräumung eine zu viel.

Für eine mutige, rebellische und handlungsfähige Stadtpolitik!

[1] Gutachten zur ordnungsbehördlichen Beschlagnahme von Wohnungen als Maßnahme gegen Obdachlosigkeit, Online unter: https://www.parlament-berlin.de/C1257B55002B290D/vwContentByKey/W2BE4J5A106WEBSDE/$File/20190225-Behoerdl_Beschlagnahme_von_Wohnraum.pdf

[2] Website des Bezirksamts Neukölln, Online unter https://www.berlin.de/ba-neukoelln/politik-und-verwaltung/aemter/amt-fuer-soziales/hilfe-zum-lebensunterhalt-und-grundsicherung/artikel.286707.php

[3] Marré, B. (2018) “ASOG-Unterbringung” In: „Handbuch Wohnungslosenhilfe“, Online unter: https://www.ash-berlin.eu/fileadmin/Daten/_userHome/65_gerulls/Handbuch_Wohnungslosenhilfe.pdf

UN-Sozialpakt: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICESCR/icescr_de.pdf

AEMR: https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf