Solidarität beim Zählen? Eine Kritik der „Nacht der Solidarität“

Brüssel, Paris, New York und jetzt Berlin? In Anlehnung an andere Städte soll nun auch hier eine Datengrundlage zum Thema Obdachlosigkeit geschaffen werden. Die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales hat dieses Projekt im Herbst 2019 angestoßen. Die Resonanz darauf war beeindruckend – offenbar trifft dieses Projekt einen Nerv der Menschen: Innerhalb weniger Wochen haben sich über 3700 Freiwillige gemeldet, die sich an der sog. „Nacht der Solidarität“ beteiligen wollen. In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar zählen sie in Teams an vielen Orten der Stadt obdachlose Menschen und stellen ihnen einige kurze Fragen (siehe Details zur Datenerhebung und Probleme dabei ). 

Es ist großartig, dass sich so viele Menschen an einem Projekt zum Thema Obdachlosigkeit beteiligen wollen und sich mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten der Menschen in ihrem Kiez auseinandersetzen. Gleichzeitig kommen für uns bei der genaueren Betrachtung der „Nacht der Solidarität“ einige Fragen auf. Ein Blick auf das Logo dieses Events führt (zumindest bei uns) zu einiger Irritation: Eine goldene Bank, über ihr die funkelnden Sterne und im Hintergrund der Fernsehturm. Das wirkt fast schon romantisch, steht aber im krassen Kontrast zur Lebensrealität vieler Menschen, die auf der Straße leben. 

Wie eine laue Sommernacht in Berlin: das originale Logo. Bild: M8 Medien

Unklar erscheint bisher auch die Methode der Zählung: Von 10 Uhr abends bis 1 Uhr nachts sollen obdachlose Menschen auf der Straße identifiziert und angesprochen werden. Doch woran erkennen wir einen Menschen, der auf der Straße lebt? An seiner abgetragenen Kleidung? Dem Schlafsack? Dem muffigen Körpergeruch?

Details zur Datenerhebung und Probleme dabei: Im Rahmen der Zählung sollen lediglich Daten zu Geschlecht, Alter, Herkunft und Begleitung der Menschen erhoben werden. Unklar bleibt, wie Obdachlosen besser geholfen werden könnte: dafür müssten auch Fragen zu Erwerbsarbeit, Krankenversicherung oder Versorgung gestellt werden. Auch auf die möglichen Ideen der Betroffenen, wie ihre Situation verbessert werden könnte, wird nicht eingegangen. Ein Versuch einer umfassenden Befragung gab es in Hamburg: dort gab die Stadt einem professionellen sozialwissenschaftlichen Institut den Auftrag zur Datenerhebung. Mehr dazu hier. Desweiteren werden nur an einigen Orten der Stadt obdachlose Menschen gezählt. Viele Straßen, Grünanlagen, Abrisshäuser, Hauseingänge etc. werden ausgelassen. Viele obdachlose Menschen werden also nicht gezählt.
Weiterhin ist zu erwarten, dass viele Menschen, die auf der Straße leben, keine Lust auf eine Erfassung und Befragung haben und diese Nacht an Orten verbringen, die von den Freiwilligen nicht gefunden werden. Es ist ungeklärt, wie die Zahl aller Obdachlosen abgeschätzt werden soll und wie verlässlich diese Schätzung sein wird. Eine ausführliche Arbeit zu den Schwierigkeiten der korrekten Zählung obdachloser Menschen gibt es hier (englisch).   

Auch der Begriff „Nacht der Solidarität“ ist irreführend. Wo genau die „Solidarität“ bei einer Zählung obdachloser Menschen liegt, bleibt irgendwie offen. Ebenfalls ist ungeklärt, was mit den erfassten Zahlen am Ende passiert. Die Hilfsangebote für obdachlose Menschen mussten in den letzten Jahre immer mehr von Freiwilligen und Sozialverbänden übernommen werden. Ist tatsächlich zu erwarten, dass Berlin jetzt wieder Verantwortung übernimmt?
 
Von der Stadtverwaltung wurden doch einige Anstrengungen unternommen, obdachlose Menschen aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben. Erst vor zwei Jahren wurden die Zelte der Campierenden im Tiergarten geräumt und die Menschen verjagt. Öffentliche Plätze wie der Leopoldplatz wurden privatisiert, um Platzverweise gegen Obdachlose aussprechen zu können. Parkbänke bekamen ein neues Design, so dass man nicht auf ihnen schlafen kann. All das passt nicht zu dem neuen solidarischen Image, welches sich die Stadt mit diesem Event verpassen will.

Ausruhen nicht erwünscht: Bank mit Metallbügeln

Denn wenn die Berliner Politik tatsächlich Obdachlosigkeit beenden wollte, gäbe es genügend Ansatzpunkte: die über 3000 Zwangsräumungen, die es jedes Jahr in Berlin gibt, machen massenhaft Menschen obdachlos. Das gleiche gilt für den komplett überteuerten Wohnungsmarkt, von dem nur das Immobilienkapital profitieren. Noch immer stehen viele Mietende hilflos Eigenbedarfsklagen oder Modernisierungsankündigungen gegenüber. Auch hier wäre die Politik gefragt, die Menschen vor Verdrängung zu schützen.

Es bleibt fraglich, ob die „Nacht der Solidarität“ einen nachhaltigen positiven Einfluss auf die Lebensrealität obdachloser Menschen haben wird. Stattdessen scheint diese Aktion eher auf öffentlichkeitswirksames Stadtmarketing abzuzielen. Eine solidarische Stadt muss mehr leisten, als Statistiken zu erheben.

Aktiv werden: Parallel zur „Nacht der Solidarität“ hat das Wohnungslosenparlament zu einer Mahnwache vor dem Roten Rathaus und dem Reichstag aufgerufen. Kommt vorbei und zeigt eure Unterstützung! Wenn ihr obdachlose Menschen direkt supporten möchtet, könnt ihr das zum Beispiel bei der Berliner Obdachlosenhilfe tun. Dort sind eure helfenden Hände willkommen, mitmachen kann jede*r, auch kurzfristig. An dieser Stelle wollen wir auch den „Wegweiser zum Umgang mit obdachlosen Menschen“ der BOH mit euch teilen.