Tag der Befreiung: Rote Kieztour im Wedding zum 8. Mai (Update)

Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus wollen wir  den Antifaschist*innen in unserem Kiez gedenken. Den Nazis fiel es schwer im „roten Wedding“ Fuß zu fassen, gab es hier doch eine organisierte Arbeiter*innenschaft, die sich entschlossen gegen den Terror von SA und SS stellte. Doch der Widerstand von unten wurde vom Hitler-Regime gnadenlos bekämpft. Mit der Roten Kieztour wollen wir all jenen gedenken, die sich gegen die nationalsozialistische Tyrannei stellten. Wir empfehlen euch außerdem den Mitschnitt der Veranstaltung „Antifaschistischer Widerstand in einem Arbeiterbezirk: Wedding zwischen 1933 und 1945“ vom 14.08.19 mit Hans-Rainer Sandvoß euch anzuhören:

(Dieser Beitrag wird fortlaufend ergänzt!)

Elise und Otto Hampel

Das Arbeiterehepaar Hampel ist ein Beispiel, wie ehemalige Unterstützer*innen der Nazis zu Regimegegner*innen wurden. Nach dem Tod des Bruders von Elise Hampel als Soldat, begannen beide Eheleute aus der Verblendung zu erwachen. Ihnen wurde bewusst, dass Hitler und die anderen Politiker der NSDAP Verbrecher sowie Kriegstreiber sind. Um auch andere Menschen der faschistischen Propaganda entreißen zu können, stellten beide zwischen September 1940 und 1942 hunderte Postkarten mit Parolen und Erklärungen gegen Hitler und die NSDAP her. Diese wurde im Wedding und anderen Teilen Berlins heimlich, z.B. in Hauseingängen und Telefonzellen, verteilt.

Diese Postkarten enthielten Aufrufe, sich gegen die mörderische und faschistische Unterdrückung zu erheben.

„Wir wollen keine kapitalistische Weltordnung wofür ein Hitler kämpft und unsere Väter und Söhne in den Tod schickt! die Hitler Regierung hatt wegen der Weltordnung bewusst den Krieg angefangen! Alle helfen mit der Verbrecherischen Kriegs-Maschine ein Ende zu bereiten!!! Wir müssen uns zur Wehr setzen!!!“

Flugblatt (1941)

Nach zwei Jahren des Widerstands wurde das Ehepaar von einer Faschistin beim Verteilen einer Karte entdeckt und an die Geheime Staatspolizei (Gestapo) verraten. Am 22. Januar 1943 wurden beide vom sogenannten Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 08. April 1943 im Gefängnis in Plötzensee ermordet. Der Schriftsteller Hans Fallada (1947) und der Regisseur Alfred Vohrer (1976) griffen das Schicksal des Ehepaars auf und setzen dem Wirken der beiden ein künsterisches Denkmal.

Offizieller Gedenkort: Stele neben dem Rathaus Wedding an der Müllerstraße

Kurzer Bericht vom Gedenken am 1. Mai 2020

„Blutmai“

Am 1. Mai 1929 gingen in Berlin, vor allem in den Arbeiterbezirken Wedding und Neukölln, tausende Menschen auf die Straßen. Die Menschen litten unter schlechten Arbeitsverhältnissen, Hungerlöhnen, sehr engen und schlechten Wohnverhältnissen mit hohen Mieten, Polizeigewalt und vielem mehr. Bereits Ende 1928 hatte der Berliner Polizeipräsident Karl Zörgiebel (SPD) Demonstrationen verboten und die Gültiggkeit des Verbotes schließlich auch auf den 1. Mai ausgedehnt.

Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) rief trotz des Verbotes die Arbeiter*innen auf, ein kraftvolles Zeichen der Unterdrückten und Ausgebeuteten auf die Straße zu tragen. Trotz der drohenden Polizeigewalt wollten Hundertausende für eine sozialistische Gesellschaft und gegen den aufkommenden faschistischen Terror der NSDAP demonstrieren. Den regierenden Berliner Sozialdemokraten war dies nicht geheuer.

 Aus ganz Deutschland wurden Polizisten zusammengezogen, um diejenigen Linken kleinzuhalten, die wirklich für einen Bruch mit dem Kapitalismus standen. Den Polizisten wurde eingetrichtert, dass es in Berlin die „kommunistische Gefahr“ niederzuknüppeln gelte. Was dann folgte, ist als sogenannter „Blutmai“ in die Geschichte eingegangen. Die Polizei richtete ein Blutbad unter den Berliner Arbeiter*innen an, schoss auf Demonstrierende, stürmte Häuser und Wohnungen mit Maschinengewehren und belagerte die Arbeiterkieze mit gepanzerten Fahrzeugen.

Die Arbeiter*innen wehrten sich mit Barrikaden, doch es blieb ein ungleicher Kampf: Mindestens 33 Arbeiter*innen wurden ermordet, über 1200 Personen wurden festgenommen. Die Polizei verschoss mehr als 12.000 Schuss scharfe Munition, teilweise auch direkt in die Fenster der Wohnungen der Arbeiter*innen. Eine Verurteilung der Polizeigewalt, politisch oder vor Gericht, fand nie statt. Ein Gedenkstein zum Blutmai befindet sich im Wedding an der Wiesenstraße, nahe der Walter-Röber-Brücke.

Offizieller Gedenkort: Gedenkstein in der Wiesenstraße 43

Eindrücke vom Gedenken „90 Jahre Blutmai“ im Wedding von 2019
Kurzbericht vom Gedenken am 1. Mai 2020

Die Gruppe Funke

Die Funke Gruppe war ein kommunistischer Widerstandskreis, der zwischen 1933 und 1934 vor allem in der ehemaligen Friedrich-Ebert-Siedlung um die Afrikanische Straße und Haselhorst tätig war.

Mit mehreren Untergrundschriften, die sich einerseits aufklärend an Anhänger der verbotenen KPD, andererseits an andere Teile der Arbeiter*innenbewegung richteten, kämpfte die Gruppe gegen die nationalsozialistische Diktatur und für die kommunistische Gesellschaft. 

„Den Faschismus schlagen, bedeutet vor allem, dem nationalen Chauvinismus das proletarische Klassenbewusstsein gegenüberzustellen, der nationalen Volksidee den Klassenkampf, der Kriegshetze die Revolution, dem staatlichen Machtapparat die illegale revolutionäre Partei.“

Februarausgabe des „Funke“ (1934)

Einen großen Teil der Untergrundschriften verbreiteten Mitglieder der Gruppe über von ihnen betriebene Zeitungswagen in der ehemaligen Friedrich-Ebert-Siedlung und am Weddinger Straßenbahnhof. Bis heute ist es ungeklärt, wodurch die Gruppe im Frühjahr 1934 aufflog. Schätzungen gehen im Rahmen der folgenden Repressionswelle von etwa 300 festgenommen Menschen aus – viele von ihnen waren lediglich Besucher*innen observierter Wohnungen. In mehreren Prozessen wurden schließlich 55 Personen angeklagt und im Januar 1935 zu zwei bis drei Jahren Zuchthaus oder Gefängnis verurteilt.

Mehr über den antifaschistischen Widerstand im Kiez erfahrt ihr im 1. Band „Widerstand in einem Arbeiterbezirk (Wedding)“ von Hans-Rainer Sandvoß. (kostenfreier Download)

Pharus Säle / Swing Jugend

Die Pharus-Säle in der Müllerstraße 142 stellten in der Weimarer Republik einen zentralen Ort der Arbeiter*innenbewegung dar. In den 1940er-Jahren formte sich unter jungen Menschen Widerstand gegen den Zwang und Drill der nationalsozialistischen Staatsjugendorganisationen. Die Weddinger Pharus-Säle waren ein zentraler Treffpunkt unangepasster Jugendlicher, um bei verbotener „undeutscher“ Musik wie Jazz und Swing zu „hotten“.

„Edelweißpiraten“, „Cliquen“ und die „Swing-Jugend“ waren verschiedene Formen der Jugendkultur, die auf eigene Art und Weise mit dem Staat in Konflikt gerieten. Aktive Ablehnung der Hitlerjugend sowie der nationalsozialistischen Diktatur führte sowohl zur Verweigerung und Sabotage sowie der Unterstützung von Verfolgten.

Unsere Gruppe kam weniger aus theoretisch-politischen Motiven zusammen, sondern entstand aus dem natürlichen Protest gegen den staatlichen Zwang.

Manfred Omankowsky, Swing-Jugend Reinickendorf

Die Jugendlichen handelten aus Ablehnung des NS-Staats und als Reaktion auf die Repression und Verfolgung durch die Nazis. In der Gegend um die Pharus-Säle gab es wiederholt Razzien, auch mit der Hitlerjugend kam es immer wieder zur körperlichen Auseinandersetzungen.

Ella und Paul Trebe

Aus Resten des alten Roten Frontkämpferbundes im Berliner Norden bildete sich eine vertraute kleine Gemeinschaft, die der Weddinger RFB-Führer Paul Trebe betreute, später übernahm seine Frau Ella die Führung der Gruppe. Die Stärke der Gruppe war nie konstant, jedoch waren teils zwischen fünfzehn bis zwanzig Genoss*innen in dem Widerstandskreis aktiv.

Über die Kontakte von Paul Trebe standen sie in Verbindung mit der Berliner Leitung der illegalen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und verfügten über Kontakte ins Ausland. In Berlin pflegten sie Verbindungen zu weiteren illegalen Gruppen, die sie mit Materialien sowie Propagandamaterial und Geldern versorgten. Das diente zum Austausch zwischen den Untergrundgruppen sowie der Weitergabe von Informationen wie z.B. Anleitungen zur Durchführung von Sabotageakten.

1941 sicherte die Gruppe eine Aktion nahe dem KZ Sachenhausen ab: Häftlinge hatten bei Außenarbeiten ein geheimes Schriftstück hintergelegt, das Ella Trebe abholte. Es handelte sich um ein Beweisdokument dafür, dass in Sachsenhausen tausende russische Häftlinge erschossen wurden.

Durch Unvorsichtigkeit eines von ihr versteckten Fallschirmspringers wurden Ella Trebe und weitere Helfer*innen 1943 zusammen mit ihrer Familie und anderen Mitgliedern der Gruppe enttarnt, unter dem Vorwurf der Feindspionage verhaftet und in das KZ Sachsenhausen deportiert. Kurze Zeit später wurde Ella Trebe zusammen mit 30 weiteren Genoss*innen dort ohne Prozess erschossen.

Gedenkort: Stolperstein für Ella Trebe in der Togostraße 78

Widerstandskreis Kapernaumgemeinde

Die Geistlichen der Kapernaumkirche gehörten zur Bekennenden Kirche, einem Teil der evangelischen Kirche, der sich gegen die nationalsozialistische Gleichschaltung und die menschenverachtenden NS-Ideologie stellte. Um den Gefängnispfarrer Harald Poelchau und die Vikarin llse Kersten sammelte sich ein überwiegend weiblicher Helfer*innenkreis, der verfolgte Jüd*innen versteckte, unterstützte und mit Lebensmitteln versorgte.

Bei wöchentlichen Bibelstunden berichtete Ilse Kersten über den Terror der NSDAP, von den Konzentrationslagern sowie den Inhaftierungen jüdischer und nichtjüdischer Bürger*innen. Zur NS-Zeit war dieser Austausch von politischen Nachrichten ein Straftatbestand und wurde mit mehreren Jahren Zuchthaus oder gar Todesstrafe geahndet.

Um Verfolgte vor dem Terror der NSDAP zu schützen, nahmen die Geistlichen der Kapernaumkirche auch Taufen von Juden vor. Ein Vertrauensmann im Polizeirevier Müllerstraße stellte mehrere Jahre Papiere für pro forma getaufte Jüd*innen aus und registrierte sie als „Christ von Geburt an“. Nur durch dieses Zusammenspiel von Kirche, Widerstandskreis und dem Vertrauensmann bei der Polizei konnte zahlreichen Menschen das Leben gerettet werden.

Wir erfuhren von Verhaftungen christlicher und jüdischer Geistlicher, von Hinrichtungen, von Konzentrationslagern und vielem anderen mehr. Wir schlossen die Abende mit Lied und Gebet, dass Gott allem Schrecken ein Ende machen möge. Alle Teilnehmer […] waren treue Widerstandskämpfer. Eine einzige Anklage hätte uns alle ins KZ gebracht.

Gedenkort: Kapernaumkirche, Seestraße 35