Verdrängung beginnt hier: Zwischenresümee der Kiez-Kampagne

Wir haben in den letzten Wochen zahlreiche Orte veröffentlicht, an denen Neubauten im Wedding errichtet werden. Diese Gebäude sind aus unserer Sicht Teil eines sich ständig verschärfenden Aufwertungsprozesses im Wedding und ganz Berlin. Über diese Orte haben wir nicht nur virtuell, sondern auch mit Plakaten im Straßenbild informiert. Auf unsere kleine Kampagne gab es viele und sehr unterschiedliche Reaktion: Manche waren wütend über die Projekte oder wollten wissen was nun dagegen getan werden kann. Andere wiederum waren Eigentümer*innen und Betreiber*innen, die uns anschrieben und unsere Aussagen kritisierten. Wiederum andere freuten sich, dass an den Ort „endlich mal was hinkommt“ oder sie kritisierten lediglich die Architektur der Bauten.
Einwände, die gegen die Kritik an Neubauten angebracht werden, sind zahlreich: Die Aussagen reichen von „man solle nicht immer alles Neue verteufeln„, über „da darf eben nur Gewerbe gebaut werden“, bis hin zu der Aussage, dass „jede neue Wohnung den Markt entspannt“. Bei all diesen Argumentationen wird aber die entscheidende Frage ausgeblendet: wer baut hier und für wen?
Zunächst wollen wir diese Frage für die drei unterschiedlichen Typen von Orten der Verdrängung beantworten, die wir bisher veröffentlicht haben: sogenannte „Studi-Apartments“, Atelierhäuser und Geschäfts-/Bürogebäude. In der Zukunft werden auch noch weitere Typen dazustoßen.
Die sogenannten Studi-Apartments
Ob „Campus Viva  I & II“, „CrescoCapital Student Housing “, oder die Neubauten auf dem ehemaligen Gelände des Stadtbads Wedding: Überall im Wedding werden sogenannte Studi-Apartments hochgezogen. Das Geschäftsmodell dieser kapitalträchtigen Investition ist in jedem Fall dasselbe: es werden möglichst viele Zimmer auf möglichst kleinem Raum errichtet. Diese Micro-Apartments – wir wollen die Zimmer nicht länger als „Studi-Apartments“ bezeichnen – werden dann an Menschen verkauft, die eine „Eigentumswohnung“ in Berlin als renditereiche Kapitalanlage betrachten und das nötige Kleingeld dafür haben [130.500 € für ein voll möbliertes Zimmer (19 m²) und einer Rendite von 4,56% bei Campus Viva]. Im nächsten Schritt werden die Eigentumszimmer voll möbliert vermietet. Entweder an Menschen, die es sich leisten können über 20 pro m² und Monat auszugeben. Oder eben an solche Menschen, die kein anderes Zimmer in Berlin finden und einen Zweit- oder Drittjob annehmen müssen oder sich verschulden, um das Zimmer zu bezahlen. Im letzten Schritt verdienen dann Campus Viva und Co noch mal kräftig, da sie für die Verwaltung und Vermietung von der Miete noch mal ein nettes Stückchen abbekommen. Sie verdienen also doppelt: Für den Verkauf der Micro-Apartments und für die Verwaltung des Gebäudes. Wenn wir zu unserer Ausgangsfrage zurückkommen – wer baut hier für wen? –  lässt sich ganz einfach feststellen: die Neubauten dienen alleinig dazu, den Profit sowie die Rendite der großen und kleinen Investor*innen zu steigern.

Vielmehr wird die vom kapitalistischen Wohnungsmarkt produzierte Knappheit des Wohnraumes dazu genutzt, völlig überteuerte Zimmer zu vermieten, den Mietspiegel dadurch noch anzutreiben und so einen immer steigenden Gewinn abzusichern. Es wird kein dringend benötigter leistbarer für die 350.000 sogennante Bedarfsgemeinschaften und 300.000 Menschen in Berlin mit geringem Einkommen geschaffen. Hinzu kommen ca. 25.000 Geflüchtete, die auf dem kapitalistischen Wohnungsmarkt besonders von sozialer Ausgrenzung und Rassismus betroffen sind. Diese werden aufgrund des künstlich verknappten Wohnungangebotes in Konkurrenz zueinander gesetzt. Als angebliche Zwischenlösung präsentiert uns der Senat Modulare Unterkünfte für Flüchtlinge. Vor dem Hintergrund der gewollten Stadtaufwertung stellt sich die Frage, wo diese enstehen – oder wo nicht.
Die Atelierhäuser
Auch der Neubau von Atelierhäusern ist immer öfter im Wedding zu beobachten, wie beispielsweise  der LOBE-Block. Die Investierenden hängen sich oft einen sozialen Mantel um, bauen aber häufig ohne kritische Selbstreflektion ihrer Vorhaben sowie Einbindung in die Kieze bzw. zu ihren Bewohner*innen. Ihre Räumlichkeiten sind oft nur für eine kleine zahlungskräftige Klientel erschwinglich. Beispielweise werden 14 pro m² im Lobe Block für ein Atelier verlangt, was weit über dem Berliner Durchschnitt liegt. 
Teilweise werden die noch leer stehenden Räumlichkeiten von klassisch prekären Pionier*innen, wie im Falle des Stadtbads Wedding, genutzt. Sie werden vom Immobilienspekulant*innen als Zwischenmieter*innen zu günstigen Mietverhältnissen genutzt und erfüllen daher zwei Funktionen. Zum einen werden chronisch leerstehende Räume (günstiger) vermietet, um überhaupt Miete einnehmen zu können. Zum anderen sollen sie als „Kreativwirtschaft“ den jeweiligen Standort bewerben, die Attraktivität des Kiezes durch kulturelle Angebote steigern. Das soll eine neue, kapitalstärkere Klientel in die Gewerbe- und Mieträume locken. Viele Immobilieneigentümer*innen spekulieren daher mittel- bis langfristig auf eine Aufwertung der Kieze, also Verdrängung der prekarisierten Mieter*innen durch ein „kreatives Image“. Da lobt schon mal der*die Investor*in die „Street Art“ an der Wand und die Käufer*innen erfreuen sich an der „tollen sozialen und multikulturellen Mischung“. 
Bedeutend für die Ignoranz gegenüber den Zuständen in der Nachbarschaft ist das Unverständnis dieser Eigentümer*innen in bezug auf ihre Rolle für ihren ausgewählten „Standort“.
Während sie einen liberalen Kunstbegriff haben, der nicht nur entpolitisert ist, sondern vielmehr auch der Kommerzialisierung des „Kunststandortes Wedding“ dient, muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass auch ihre Kunstprojekte sowie Atelierräume nicht im luftleeren Raum entstehen und sich verkaufen/ vermieten lassen.
Auch wenn teure Gewerberäume nicht direkt den Mietspiegel für Mietwohnungen in die Höhe treiben, tun sie es indirekt über die Forcierung des Zuzugs einer Klientel, die für Konsum und Wohnung mehr bezahlen kann. Während viele Akteur*innen im sogenannten Kunstbetrieb kaum selbstkritisch die Veränderungsprozesse in den entsprechenden Kiezen reflektieren, bestreiten viele sogar ihre Mitverantwortung. Kunst und ihre Betreibenden dürfen dabei nicht als Problem verstanden werden. Vielmehr bedarf es der Schaffung eines kollektiven Bewusstseins, Klassenfragen zu stellen und gemeinsam ihre Kämpfe zu führen.
Eine stadtteilpolitische Kritik an dieser kommerzialisierten Kunstpolitik kann genau diesen Mangel an Reflektion der eigenen problematischen Rolle zumindest teilweise einfordern, dass die Bewohner*innen der Kieze mit ihren Bedürfnissen durch die Projekte gestärkt werden können. Praktischer Support durch das Aufgreifen und Fördern von sozialen Kämpfen wäre sicherlich ein interessanter erster Ansatz.
Geschäfts- und Bürogebäude
Auch Geschäfts- und Bürogebäude sind oft Teil eines Verdrängungsprozesses und folgen der gleichen kapitalistischen Logik. Hier werden oft nicht direkt Wohnungsmietende verdrängt, sondern Gewerbe deren Inhaber*innen in den Kiezen wohnen und ihre Existgrundlage verlieren. Die Vormachtstellung von transnationalen Kapitalgesellschaften z.B. in Form von Malls und den ansässigen Ketten führt zu einer Vereinheitlichung des Konsumangebots und des StadtbildesDurch bundes- und landeseigene Großprojekte wie dem Städtebau-Programm „Aktive Zentren“, welche kapitalkräftige Händler*innen (sogenanntes gehobeneres Marktsegment) in die Gewerberäume locken will, soll auch die im Rahmen der neoliberalen Stadtaufwertung hinzuziehende Klientel mit Konsumgütern und Dienstleistungen versorgt werden. Hier verzahnen sich die verschiedenen Instrumente der neoliberalen Stadtaufwertung. Im Wedding ist hier besonders die Müllerstraße betroffen, welche von der Stadtplanungsagentur Jahn, Mack und Partner strategisch analysiert wird. Daraus werden Konzepte für Bezirk und Land erarbeitet, wie Aufwertungen von Gewerberäumen gesteuert werden können. Ob das zugunsten der marginalisierten Bevölkerung passiert, darf wohl bezweifelt werden. Zugleich werden „Mitmachfallen“, pseudo-demokratische Beteiligungsgremien geschaffen, die diesen Prozess nach außen hin noch legitimieren sollen. Zur Neuwahl der Stadtteilvertretung im März 2017 wird aktuell wieder aufgerufen. Die letzte Stadtteilvertretung ist gescheitert, nachdem vielen Vertreter*innen die Bedeutungslosigkeit des Gremiums bewusst geworden ist.
Wie weiter?
Für uns steht fest, Wohnen soll keine Ware sein. Neubauten ließen sich viel günstiger errichten und die Menschen in den betroffenen Kiezen hätten mehr davon, wenn sie nicht früher oder später auf maximale Rendite ausgerichtet würden. Über die Zukunft des sozialen Wohnungsbaus wird aktuell viel debattiert. Statt aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, folgt gerade Ratlosigkeit über alle Parteien hinweg. Das aktuelle Dilemma der noch bestehenden Sozialwohnungen, die aus der Anschlussförderung hinauszufallen drohen, Gefahr laufen auf dem freien Wohnungsmarkt für vielfach höhere Mieten vergeben zu werden, kann letztlich nicht mit mehr Marktwirtschaft und gesetztlichen Regulierungen erfolgreich bekämpft werden. Damit die Neubauten auf die Bedürfnisse der Bevölkerung abgestimmt werden, ist natürlich deren konkrete Mitbestimmung notwendig. Diese wiederum braucht eine gute Organisierung der Menschen in den Kiezen. Die bestehenden politischen Strukturen wie die Berliner Mietergemeinschaft, Erwerbslosenorganisierungen und „Hände weg vom Wedding“ können daher umso mehr genutzt und ausgebaut werden. Doch hängt das vermeintliche Schicksal eines Stadtteils nicht nur von ihnen ab. Weitere praktische Strukturen wie beispielsweise Hausräte, Kommunalräte oder vorerst eigene stadtteilpolitische Initiativen können geschaffen werden. Alle sind gefragt.
Am Beispiel der Weddinger Koloniestraße zeigte sich, wie tendenziell mietenpolitische Kämpfe über alle gesellschaftlich geschaffenen Grenzen selbst organisiert werden können.  
Die staatlichen Institutionen haben die derzeitigen Neubauten genehmigt, und sorgen durch die Verteidigung der Eigentumsrechte an Investor*innen sowie die Durchsetzung von Zwangsräumungen aktiv für Verdrängung marginalisierter Mieter*innen. Deshalb müssen sie ersetzt werden durch Basisorganisationen der Kiezbewohner*innen.
Falls ihr selbst solche Projekte in eurem Kiez wahrnehmt, schreibt uns und/oder kommentiert die Beiträge. Organisieren wir uns gemeinsam gegen den Ausverkauf der Stadt und unserer Kieze.
Die bisher veröffentlichten Neubauten: