Kein Freund, kein Helfer. Zum Verhalten der Berliner Polizei in Zeiten des Ausnahmezustands

Dieses Jahr verlief die jährliche Kiezdemo am 30. April im Wedding anders als sonst. Trotz Infektionsschutzkonzept und reduzierter Teilnehmer*innen-Anzahl wurde die Demonstration von den Berliner Behörden verboten. Lediglich eine Kundgebung mit 20 Menschen am Leopoldplatz wurde gestattet. Eine Konstante gab es jedoch auch dieses Jahr wieder: das massive Aufgebot der Berliner Polizei und die Drangsalierung von Menschen auf und neben unserer Kundgebung. Auch wenn beides für uns nicht überraschend ist, waren die Ausmaße dieses Jahr doch besonders absurd.

Für jeden Menschen auf der Demo einen Mannschaftswagen: vorbildlicher Betreuungsschlüssel

Die knapp 20 Kundgebungsteilnehmer*innen wurden mit einem Absperrband mit der Aufschrift „Halt Polizei – Tatort nicht betreten!“ umspannt. Am Leopoldplatz zählten wir alleine 30 Einsatzfahrzeuge, entlang der ehemals geplanten Demoroute stand Berichten zufolge an fast jeder Straßenecke ein Mannschaftswagen. Wir gehen von ca. 400 Polizist*innen im Umfeld der Kundgebung aus. Dazu kam eine Vielzahl von Beamt*innen in Zivil, die die Kundgebung beobachteten. Anlass für dieses massive Aufgebot gab es auch schon in den vergangenen Jahren nicht. So einen Betreuungsschlüssel wünschen wir uns für die Kitas und Schulen in Berlin!

Wie auch schon die letzten Wochen bei Polizeieinsätzen zu beobachten war, missachteten die meisten Einheiten der Berliner Polizei die Infektionsschutzmaßnahmen und setzen damit sich und andere einem erhöhten Infektionsrisiko aus: während alle Menschen auf der Kundgebung Masken trugen und penibel darauf achteten, Abstand zueinander einzuhalten, stand die Polizei in größeren Gruppen eng beieinander. Einen Schutz haben wir nicht gesehen, und auch beim Ansprechen von Menschen auf und neben der Kundgebung wurde kein Mindestabstand eingehalten. 

Keine Lust auf Infenktionsschutz: Polizeibeamte am Rande der Kundgebung

Neben dem Unwillen zur Einhaltung von Infektionsschutzmaßnahmen zeigte die Berliner Polizei auch gewisse Defizite in den Grundrechenarten: denn obwohl bei der Kundgebung 20 Teilnehmende zugelassen waren, wurde mehreren Menschen der Zutritt zu unserer Kundgebung verwehrt. Auf unsere zugelassene Teilnehmer*innenzahl kamen wir zu keinem Zeitpunkt.

Szene eines Abendspaziergangs

Im Umkreis der Kundgebung kam es außerdem vermehrt zu Drangsalierungen durch Beamte: als Anmelder sind uns mindestens vier Fälle bekannt, in denen Passant*innen von der Polizei kontrolliert und durchsucht wurden.

Eine betroffene Person, die an diesem Tag sogar zweimal kontrolliert wurde, berichtet:

Sie nahmen abermals die Personalien auf, beschlagnahmten den letzten Krümel Kreide, und wollten uns dann erst weitergehen lassen. Nach Rücksprache mit anderen Beamt*innen und als bereits die nächsten zwei Kleinbusse der Polizei bei uns hielten, fragten sie nach den Pappschildern, die unbenutzt und zusammengefaltet unten im Kinderwagen lagen, und wollten diese abermals beschlagnahmen. Sie drohten uns, wenn wir sie nicht abgeben würden, käme Schlimmeres als die zweifache Personalienfeststellung auf uns zu.

Der ganze Bericht findet sich hier

Auch die lokale Basisorganisation der Partei „Die Linke“ hat auf ihrer Website ihre Erlebnisse dieses Tages mit der Polizei veröffentlicht. Mehrere Personen wurden durchsucht und ihre Identität festgestellt. Ausschlaggebend war hier wasserlösliche Sprühkreide:

Dieses Sprühen mit Kreide sei zwar, so durchgeführt, keine Straftat, aber [..] wenn Kollegen uns dann [..] beim erneuten Sprühen erwischten, könne nicht garantiert werden, dass der Einsatz ihrer Mittel verhältnismäßig sei.

Hier und hier
War angeblich „zu vermummt“: Passantin wird von der Polizei zur Identitätsfeststellung geführt

Eine weitere Identitätsfeststellung und Durchsuchung gab es am Leopoldplatz von einer Person, aufgrund einer angeblich zu starken “Vermummung”. Einen Anlass zur Kontrolle gab es nicht, da viele Menschen wie aktuell erwünscht mit Mundschutz oder Schal unterwegs waren. Die kontrollierte Person war zwar nicht auf dem Weg zur Kundgebung, wurde aber trotzdem von der Berliner Polizei schikaniert.

Über die Kundgebung hinaus kam es zu skandalösen Polizeieinsätzen im Wedding, die mit Infektionsschutz sehr wenig und mit einem Angriff auf Grund- und Freiheitsrechten sehr viel zu tun haben. Beispielweise gab es am 11. April einen verantwortungsvollen Protest auf dem Leopoldplatz, der von der Polizei aufgelöst und Menschen festgenommen wurden. Am Weddinger Nordufer ging ein Großaufgebot wegen Farbe, Flatterband und einem Transparent gegen ThyssenKrupp auf martialische und in völlig unverhältnismäßiger Art und Weise vor. Fünf Personen wurden laut Presseberichten von der Polizei festgenommen.
Nicht nur der öffentliche Raum, sondern auch unsere Wohnungen sind in Zeiten des Ausnahmezustands nicht geschützt. Während einer Party unter WG-Mietbewohner*innen brach die Polizei ohne Ankündigung die Tür auf: „Zwei Polizisten standen in der Zimmer-Tür. Die Polizisten trugen schusssichere Westen und hatten Taschenlampen in der Hand. Wir schrien alle mehrmals sehr laut vor Schreck.“ Nach diesem Einbruch zog die Polizei ohne Personalienaufnahme oder sonstige Maßnahmen wieder ab. (Den gesamten Bericht findet ihr hier)

Momentan nimmt die Berliner Polizei das Infektionsschutzgesetz gerne als Möglichkeit politischen Protest zu kriminalisieren, willkürlich Kontrollen durchzuführen und in unsere Grundrechte einzugreifen. Dabei hält sie selbst nicht die Mindeststandards eines effektiven Infektionsschutzes ein.

Ausnahmezustand darf nicht zum Normalzustand werden: Grundrechte verteidigen!

Falls ihr selbst ähnliche Erlebnisse gemacht habt, dann meldet euch unter hwvw@riseup.net .
Wenn ihr Repressionen aufgrund politischen Protestes erfahren habt, steht die strömungsübergreifende linke Solidaritätsorganisation Rote Hilfe an eurer Seite. Zudem ist der Ermittlungsausschuss Berlin für kostenlose und solidarische juristische Beratung ansprechbar.

Hände weg vom Wedding
Mai 2020